Ex-Wirecard-Chef Braun Die Legende vom Opfer
Ex-Wirecard-Chef Braun stellt sich gern als Opfer dar, das von nichts wusste. Doch viele Fakten säen laut WDR, NDR und "SZ" Zweifel an dieser Version.
Das Wort "Opfer" vermeiden Markus Braun und sein Strafverteidiger Alfred Dierlamm. Zynisch könnte das aussehen, wenn der ehemalige Vorstandschef von Wirecard sich so nennt, wo es doch Tausende Anleger gibt, die alles verloren haben. Das, was Braun bei seinen Vernehmungen bei der Staatsanwaltschaft gesagt und was sein Verteidiger Dierlamm in Schriftsätzen festgehalten hat, läuft aber darauf hinaus, dass Braun das Opfer derjenigen war, die den Konzern ausgenommen hätten.
Penibel, detailverliebt - und mit engen Kontakten zu Marsalek
All das zielt auf Jan Marsalek und eine mutmaßliche Bande um ihn herum. Sie sollen den Konzern geplündert haben. Bei der Staatsanwaltschaft soll Braun im Dezember 2020 ausgesagt haben, dass ein Milliardenbetrag bei Wirecard abgeflossen sei. Über eine "Schattenstruktur" sei das Geld hinter Brauns Rücken unterschlagen worden. Der Wirecard-Vorstandsvorsitzende habe von all dem nichts gewusst.
Recherchen von WDR, NDR und "Süddeutscher Zeitung" zeigen, dass immer mehr Indizien diese Verteidigungslinie erschüttern. Der Sachstandsbericht des Insolvenzverwalters Michael Jaffé widerspricht Brauns Version in entscheidenden Punkten. Mitarbeiter, die die Staatsanwaltschaft und der parlamentarische Untersuchungsausschuss als Zeugen befragt haben, sowie Mails, Chats und interne Unterlagen zeichnen zudem das Bild eines peniblen, detailverliebten Konzernchefs, der eigentlich wissen sollte, was sich in seinem Unternehmen tat.
Mitarbeiter beschreiben ihn in Aussagen als Korinthenkacker, als Kontrollfreak und als Machtmenschen, der in "gutsherrlicher Manier" entschieden habe und immer gut informiert gewesen sei. Wenn jemand einen Stift fallen ließ, so erzählt ein Zeuge ironisch, habe Braun das wissen wollen. Sein Verhältnis zu Marsalek, von dem er sich nun offenbar distanzierten will, beschreiben Zeugen als vertrauensvoll. Beide hätten auch am Wochenende oft gemeinsam im Büro gesessen. Der Austausch sei rege gewesen.
Nachfolger entdeckte "gigantischen Betrug" nach wenigen Stunden
Mitarbeiter wollen Braun, so haben sie ausgesagt, darauf hingewiesen haben, dass es Unregelmäßigkeiten im Drittpartnergeschäft gegeben habe. Bei den Berichten der "Financial Times" zu Problemen in dem Bereich hätte er aktiv werden können. Stattdessen sei Braun perfekt darin gewesen, schlechte Nachrichten wegzudrücken, erzählen Zeugen. Kritiker sollen von ihm als Kriminelle tituliert worden sein. Betrugsvorwürfe als "Missverständnisse", die sich aufklären ließen.
Dass Braun ein jahrelang bestehendes System der Fälschung von wesentlichen Kennzahlen des Unternehmens nicht bemerkt haben will, sollen Ermittler aktuell für eher unplausibel halten - zumal der am 18. Juni 2020 neu berufene Vorstandsvorsitzende James Freis gesagt hat, dass ihm schon nach wenigen Stunden Studium der Bilanzen und internen Unterlagen klar gewesen sei, dass es sich hier um einen "gigantischen Betrug" handele.
Gegenüber der Staatsanwaltschaft soll Braun ausgesagt haben, dass rund zwei Milliarden Euro bei Wirecard abgeflossen seien, 1,5 bis 1,6 Milliarden seien bei rund zehn bis 15 Personen hängen geblieben. Folgt man dieser These, hätten die verschwundenen Wirecard-Milliarden tatsächlich existiert, und eine Bande rund um Marsalek hätte den Konzern hinter Brauns Rücken ausgenommen. Braun, der laut Dierlamm sein Privatvermögen vollständig verloren hat, wäre bei diesem Milliardenraub leer ausgegangen. Die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft gegen Braun, das implizieren diese Aussagen von Dierlamm, würden keinen Sinn ergeben. Braun weist seit Beginn der Ermittlungen gegen ihn alle Vorwürfe zurück.
Eher Scheinkonzern als Opfer von Plünderungen
Der aktuelle Sachstandsbericht von Insolvenzverwalter Jaffé sät weitere Zweifel an der Version von Braun. Jaffé hat die Geschäfte von Wirecard aufwendig und akribisch untersuchen lassen, allerdings hätten sich "keine Anhaltspunkte dafür ergeben", dass es das Drittpartnergeschäft überhaupt gegeben hätte. Die Gelder, die auf Treuhandkonten auf den Philippinen hätten liegen sollen, "waren nach den aktuellen Ereignissen zu keinem Zeitpunkt existent". Es sei zwar Geld abgeflossen, heißt es in dem Bericht, allerdings nur eine halbe Milliarde Euro - und teils sei die auch wieder in den Konzern gelaufen. Wirecard, so lässt sich das interpretieren, war eher Scheinkonzern als Plünderungsopfer.
Die Staatsanwaltschaft München ermittelt mittlerweile gegen mehr als 30 Personen aus dem Umfeld von Wirecard. Neben Braun sitzen zwei weitere ehemalige Manager in Untersuchungshaft. Die Liste der möglichen Vergehen zieht sich von schwerem Bankenbetrug über Marktmanipulation und Bilanzfälschung bis zu gewerbsmäßigem Bandenbetrug.