In Peking zieht ein vor die Tür gesetztes Paar mit seinen Habseligkeiten durch eine Straße

Weniger Stress, weniger Geld Warum Chinesen die großen Metropolen verlassen

Stand: 13.08.2024 07:45 Uhr

Lange Zeit galt in China: Wer in einer Großstadt lebt, dem geht es gut. Doch viele Menschen kehren inzwischen den Metropolen den Rücken und suchen ihr Glück an kleineren Orten.

Liu Jinpeng steht an der Fritteuse und bereitet Hähnchen-Nuggets und Pommes zu. Eine Online-Bestellung, die bald von einem Lieferfahrer abgeholt wird. Sein Laden befindet sich im Stadtzentrum von Linquan, ganz im abgelegenen Westen Anhuis. Der zentralchinesische Landesteil ist relativ arm und dafür bekannt, dass viele ihn verlassen, um in Großstädten Arbeit zu finden.

Liu Jinpeng in seinem Laden

Liu Jinpeng in seinem Laden

Der 31-jährige studierte Nachrichtentechniker hat selbst einige Jahre in Nanjing und Hefei gearbeitet, Städte mit jeweils rund zehn Millionen Einwohnern. "Der Job war nicht so stabil, drei Monate hatte ich keine Arbeit, so lange hat mein Geld gereicht. Auf lange Sicht wollte ich einfach mehr Stabilität", sagt Liu. "Ein Freund von mir war schon in der Gastronomie tätig, dann haben wir uns zusammengetan, und ich bin aus Hefei nach Linquan zurückgekehrt, um mein eigenes Geschäft zu starten."

Die meisten Menschen würden Linquan irgendwann verlassen, um Geld außerhalb zu verdienen. Hier gebe es keine großen Firmen, keine guten Jobs. Die einzige Möglichkeit sei, sich selbständig zu machen, so Liu. Das Geschäft sei hart, aber er komme über die Runden.

20 Jahre lang immer wechselnde Jobs

Im Laden von Yu Ling ein paar Straßen weiter gibt es schnelles, einfaches Essen auf die Hand: Gekochtes Hühnerfleisch, mariniertes Schwein und Salate. Auch die 49-Jährige ist mit ihrem Mann im Oktober zurück nach Linquan gezogen, um sich selbständig zu machen. Mehr als zwei Jahrzehnte haben die beiden in Peking gelebt.

"Wir haben ganz unterschiedliche Arbeit gemacht, Autoreparatur, im Badehaus, im Restaurant gearbeitet", erzählt sie. "Wir wollten uns nicht weiter damit beschäftigen, wir haben das mehr als 20 Jahre gemacht. Zwei unserer drei Kinder sind auch in Peking geboren. Wir hatten wirklich genug davon, diese Arbeit zu machen, wir wollen uns ausruhen." Noch wirft Yus Laden in Linquan keinen großen Gewinn ab. Zurück nach Peking möchten sie dennoch nicht.

Bürger erster und zweiter Klasse

Die kommunistische Staats- und Parteiführung unterteilt die Bevölkerung in Land- und Stadtbewohner. Wer von außerhalb in die Metropolen kommt, hat nicht dieselben Rechte wie gebürtige Städter, weniger Sozialleistungen und eine schlechtere Gesundheitsversorgung. Kinder müssen teilweise auf minderwertige Schulen gehen oder werden bei den Großeltern auf dem Land zurückgelassen. Das Ziel, als Städter eingebürgert zu werden oder eine Wohnung zu kaufen, ist für nur wenige erreichbar. Deswegen kehren die meisten irgendwann in ihre Heimat zurück.

So wie Yu und ihr Mann. "Das Lebenstempo in den Metropolen ist zu schnell, in der Heimat ist es langsamer. Wenn wir mal rechnen, bleibt unterm Strich ähnlich viel übrig", sagt sie. "Außerhalb kann man zwar mehr verdienen, aber die Miete ist auch sehr hoch, Nahverkehr, Essen - man gibt viel Geld aus."

Ein weiterer Grund für ihre Rückkehr nach Anhui: In den vergangenen Jahren hätten sie viel weniger Geld verdient in Peking als früher. Das passt ins Bild. Chinas Wirtschaft hat sich seit dem Ende der strikten Null-Covid-Politik nicht so erholt wie erwartet. Verschuldete Kommunen, eine Immobilienkrise und schwache Nachfrage belasten die Konjunktur, viele junge Leute sind ohne Job. Unterstützung vom Staat gibt es keine. Der Druck ist groß. Selbst viele gut Qualifizierte können sich das teure Stadtleben nicht mehr leisten. 

Die kleinere Städte holen auf

Ein kleiner Nachtmarkt neben einer Shoppingmall in Linquan: An Ständen gibt es chinesisches Fastfood, Teigtaschen, gebratenen Tofu und Nudelsuppen. Seit einem Jahr steht Ren Wenwen mit ihrem Mann hier jeden Abend hinter einem kleinen Wagen und verkauft Wraps aus Reisteig, die auf einer heißen Platte gegrillt werden. Die 28-Jährige hat zuvor in der Tech-Metropole Hangzhou in einer Mode-Mall als Model gearbeitet.

"Natürlich kann man in der großen Stadt mehr verdienen. Manchmal bereue ich auch, dass ich zurückgekommen bin, wenn ich schaue, was die ehemaligen Kollegen für ein Leben dort haben, das ist schon besser", sagt Ren. "Aber die Arbeit war so anstrengend, der Druck so groß. Es gab viele Konflikte, ich war so erschöpft. Deswegen bin ich zurückgekehrt, hier habe ich mehr Freiheit."

Auch der frühere Nachrichtentechniker Liu, der heute frittiertes Hähnchen verkauft, fühlt sich freier in seiner Heimat. Und der Lebensstandard in den kleineren Städten komme mittlerweile nahe an die Metropolen heran, so der 31-Jährige: "Jetzt ist das Leben hier eigentlich auch gut. Shopping, Restaurants, Wohnen und Verkehr, das ist alles okay", konstatiert er. "Dazu gibt es sogar einen Vergnügungspark, einen Zoo und Kinos. Die Unterschiede zwischen kleinen und großen Städten sind nicht mehr so groß wie noch vor zehn Jahren."

Benjamin Eyssel, ARD Peking, tagesschau, 06.08.2024 13:06 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 15. Juli 2024 um 09:00 Uhr.