Deutsche Abhängigkeiten Weniger China wagen?
Spätestens seit dem Ukraine-Krieg sucht Deutschland nach einer neuen China-Strategie. Das Ziel: weniger Abhängigkeit, mehr Menschenrechte. Gar nicht so leicht.
Kein Handel mehr mit China? "Das wäre vermutlich ein riesiges Problem", sagt Ralf Stoffels. Er ist Geschäftsführer von BIW, einem mittelständischen Unternehmen mit Standorten in Nordrhein-Westfalen, Polen und China. Dort werden unter anderem Silikonschläuche hergestellt, für Autos, Flugzeuge, Backöfen und medizinische Zwecke. Der Rohstoff dafür, das Silicium, kommt zu 85 Prozent aus China. In der Menge ließe es sich nicht aus einem anderen Land ersetzen, erklärt Geschäftsführer Stoffels, und Knappheit würde zu Preissteigerungen führen.
Womöglich könnte er Dialyseschläuche teurer verkaufen, weil Medizinprodukte wichtig sind. Doch ohne China als Lieferant und Absatzmarkt müsste sich sein Unternehmen gesundschrumpfen, glaubt Stoffels - das hieße letztlich auch Entlassungen.
Angewiesen auf China
Es ist ein Unternehmen, das wie viele andere von Zulieferungen aus China abhängig ist. Laut einer Umfrage des ifo-Instituts sind 46 Prozent der Unternehmen, die Rohstoffe oder Produkte weiterverarbeiten, auf China angewiesen. Jedes zweite möchte das ändern. Denn wie anfällig die Lieferketten sind, hat nicht zuletzt die Corona-Pandemie gezeigt.
Aktuell ist China noch Deutschlands wichtigster Handelspartner. 2021 war es auf Platz 2 der Länder, in die deutsche Unternehmen am meisten exportieren. Noch entscheidender ist China aber für die Importe, das betrifft besonders die Automobil, die Chemie- oder die Elektroindustrie. Eine kritische Abhängigkeit besteht etwa bei Seltenen Erden, die unter anderem für den Bau von Elektromotoren oder Windturbinen gebraucht werden. Seltene Erden könnten auch in Australien, Südafrika oder Indien gefördert werden, doch dafür müssten erst Kapazitäten entstehen.
Die Wirtschaft müsste sich anpassen
Auch bei Medikamenten ist Deutschland von China abhängig: Bei Chloramphenicol, einem Breitbandantibiotikum, werden mehr als 97 Prozent aus China importiert, ebenso bei Vitamin B. Das Ziel in der EU ist seit der Corona-Pandemie klar: wieder mehr wichtige Arzneimittel vor Ort zu produzieren, damit es nicht plötzlich Engpässe gibt.
Geschätzt hängen etwa drei Prozent der Wertschöpfung direkt oder indirekt am Handel mit China, sagt der Diplom-Volkswirt Jürgen Matthes. Er forscht am Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln. Das betrifft auch die Arbeitsplätze, rund 1,1 Millionen hängen mit dem China-Geschäft zusammen. Nicht alle würden wegfallen bei einem Handelsboykott, betont Jürgen Matthes, aber wirtschaftliche Einbußen wären unvermeidbar. Allerdings gibt es Modelle, etwa vom ifo-Institut und vom Institut für Weltwirtschaft, die eine Anpassung mit einrechnen: also die Möglichkeit, den Handel mit China teils mit anderen Ländern zu ersetzen. Der langfristige wirtschaftliche Verlust, nach etwa zehn Jahren, würde demnach nicht mehr bei drei, sondern bei einem Prozent liegen.
Politischer Druck durch Handelsboykott?
Menschenrechtsorganisationen fordern schon länger mehr Druck auf China. Könnte ein Handelsboykott das autoritäre Regime zum Umdenken bewegen, was die Menschenrechtsverletzungen und den Umgang mit Minderheiten angeht? Das bezweifelt Genia Kostka, Professorin für chinesische Politik an der Freien Universität Berlin. "Auf jeden Fall würde das politische Verhältnis darunter leiden", sagt sie. Die wirtschaftlichen Beziehungen seien oft die Grundlage für politische Kompromisse. Und die brauche es bei globalen Fragen, wie dem Kampf gegen den Klimawandel und der Bewältigung der Corona-Pandemie. Bei einer Isolation Chinas hält Kostka eine Blockbildung für möglich, China könnte sich gleichgesinnte autoritäre Partner wie Russland suchen.
"Die alte Strategie 'Wandel durch Handel' war naiv und auch etwas arrogant vom Westen", sagt Kostka. Die Expertin für chinesische Politik plädiert für eine neue Strategie: Es brauche harte direkte Verhandlungen und klare Regeln im Handel. Wie etwa das Lieferkettengesetz, das kommendes Jahr in Kraft tritt: Wenn Deutschland keine Produkte aus Zwangsarbeit mehr kauft, sei das eine gute Stellschraube.
Bundesregierung arbeitet an China-Strategie
In der Politik geht es seit Wochen darum, wie weit der chinesische Einfluss in Deutschland gehen darf. Für ein Terminal am Hamburger Hafen hat die Bundesregierung letztlich den Kauf von maximal 24,9 Prozent der Anteile durch das chinesische Unternehmen Cosco erlaubt, um die Einflussnahme zu begrenzen. Zwei Deals wurden ganz verboten, beim Chip-Hersteller Elmos und einer Halbleiterfirma. Kritische Bereiche der Industrie müssten geschützt werden, begründete Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck das Nein.
Anfang der Woche reiste er mit Bundeskanzler Olaf Scholz zur Asien-Pazifik-Konferenz. Um weniger abhängig von China zu sein, ist das Ziel, stärker mit anderen asiatischen Ländern in den wirtschaftlichen Austausch zu kommen. Diplom-Volkswirt Matthes sieht dort einiges Potenzial: Indien, Indonesien, Malaysia, Thailand würden sich vergleichsweise gut entwickeln. Nötig seien aber Freihandelsabkommen, um gegenseitig Zölle und andere Handelsbarrieren abzubauen.
Fest steht, dass die deutsche Wirtschaft unabhängiger von China werden soll. Wie dringend notwendig das ist, hat auch der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine gezeigt. Grünen-Außenpolitikerin Agnieszka Brugger betonte kürzlich im Bundestag: "Diese Ignoranz und Naivität, auch die Fehler der alten deutschen Russland-Politik, müssen uns allen eine deutliche Lehre sein."
Die Bundesregierung arbeitet gerade an einer neuen China-Strategie. Im kommenden Jahr soll sie vorgelegt werden. Ein Entwurf aus dem Außenministerium kursiert bereits. Demnach soll die Abhängigkeit von China verringert, die Menschenrechte eine größere Rolle spielen und die Beziehungen zu Taiwan ausgebaut werden, wie "Der Spiegel" und das "Handelsblatt" aus dem vertraulichen Papier berichteten. Abhängigkeiten - ähnlich wie mit Russland - sollen "zügig und mit für die deutsche Volkswirtschaft vertretbaren Kosten" verringert werden.
Eine Reaktion aus Peking gibt es auch schon: Dort übte man scharfe Kritik an dem Entwurf.