Thomas Meunier bekommt die gelbe Karte von Schiedsrichter Tobias Welz.

Psychologie Kleinere Schiedsrichter sind strenger

Stand: 19.06.2024 09:17 Uhr

Das Unterbewusstsein entscheidet mit: Eine Vorab-Studie zeigt, dass die Größe eines Spielers im Verhältnis zum Schiedsrichter die Härte und Anzahl von Strafen im Fußballspiel beeinflussen kann.

Von Julia Nestlen, SWR

Manche gelbe Karte erscheint Zuschauenden als unverhältnismäßig harte Strafe. Das kann durchaus sein, sagen Forscher aus Deutschland und Österreich in einer neuen Preprint-Studie, die noch nicht von Fachkollegen geprüft wurde. Darin kommen sie zu folgendem Ergebnis: Wenn ein Schiedsrichter etwa einen Kopf kleiner ist als der Spieler, den er sanktionieren will, ist es wahrscheinlicher, dass dieser für sein Fehlverhalten bestraft wird.

"Wir sprechen schon von einer Änderung, die für uns in der Größe überraschend war", sagt der Verhaltensökonom Mario Lackner, einer der Autoren der Studie. "Eine Strafe ist zwischen sieben und zehn Prozent wahrscheinlicher, wenn der Schiedsrichter zehn bis fünfundzwanzig Zentimeter kleiner ist als der Spieler."

Forschende haben mehr als 2.000 Bundesliga-Spiele analysiert

Lackner von der Universität Linz hat gemeinsam mit zwei Forschern der Fernuniversität Hagen gut 2.340 Spiele der deutschen Bundesliga zwischen 2014 und 2021 analysiert und sich genau angeschaut, wie Spieler von unterschiedlichen Schiedsrichtern bestraft wurden.

Man versuche, so Lackner, durch die Masse der Beobachtungen herauszufiltern, dass ein Spieler sich am Ende des Tages immer relativ gleich verhalte, wenn er Hunderte Spiele in den Daten beobachtbar sei. Die Variation in der Bestrafung müsse dann dadurch kommen, dass die Spiele jeweils unterschiedliche Schiedsrichter zugeteilt bekommen.

Bei Spielern, die um einiges größer als sie selbst sind, pfeifen Schiedsrichter demnach eher ein Foul und greifen zu einer gelben Karte; um sich unterbewusst Respekt zu verschaffen. Gerade in der ersten Halbzeit zeige sich dieser sogenannte Napoleon-Effekt, erklärt Lackner. "Vereinfacht würden die Psychologen sagen, kommt das schlicht und ergreifend daher, dass man mit relativ kleinerer Körpergröße versucht, über diese Strafen Autorität zu gewinnen. Das ist aus mehreren Kontexten belegt und hat uns insofern nicht überrascht, dass es hier auch so ist."

Aus vorangegangenen Studien ist bereits bekannt, dass größere Spieler allgemein tendenziell als aggressiver bewertet werden. Neu ist die Erkenntnis, dass auch das Größenverhältnis von Schiedsrichter zu Spieler Auswirkungen haben kann.

In den zweiten Halbzeiten nähmen die "härteren" Strafen, wie gelbe Karten, demnach bei den im Verhältnis kleineren Schiedsrichtern ab.

Relativ größere Schiedsrichter scheinen entspannter zu bestrafen

Interessanterweise, so Lackner, zeigten die Daten auch einen umgekehrten Napoleon-Effekt; dass auch Schiedsrichter, die relativ größer sind im Vergleich sind zum Spieler, den sie sanktionieren, weniger Strafen aussprechen. Spieler, die kleiner als sie sind, bestrafen sie demnach um 16 Prozent weniger im Vergleich zu Situationen "auf Augenhöhe".

Die durchschnittliche Körpergröße bei männlichen Schiedsrichtern in der Bundesliga beträgt 1,86 Meter, während die Durchschnittskörpergröße bei männlichen Fußballern bei 1,84 Metern liegt. In der Bevölkerung in Deutschland liegt der Durchschnitt bei Männern ein wenig darunter, bei 1,81 Meter. Mit zu den größten Schiedsrichtern der deutschen Bundesliga zählt Deniz Aytekin - mit 1,97 Meter.

Mit Berufserfahrung werden die Entscheidungen (noch) besser

Je länger Schiedsrichter aktiv sind, umso kleiner wird gemäß der Daten der Effekt. Lackner sagt, er könne nur vermuten, warum. Möglicherweise seien besonders strenge oder laxe Schiedsrichter in ihrer Karriere einfach weniger erfolgreich - oder sie trainierten sich ab, unbewusst beeinflussbar zu sein: "Wenn man im Rahmen der Ausbildung und Spielnachbetrachtung auf solche Faktoren hinweist, gerade bei jüngeren Schiedsrichtern, ist das sinnvoll und kann helfen, dass Entscheidungen noch qualitativ besser werden".

Napoleon-Effekt auch auf Alltagssituationen übertragbar

Die Frage, ob die Forscher den Effekt des Größenunterschieds auch bei der Europameisterschaft erwarten, bejaht Lackner: "Ich gehe davon aus, dass das relativ ähnlich abläuft. Bei internationalen Turnieren hat man Schiedsrichter aus der Breite von Europa, die jeweils die Elite ihrer Heimatligen darstellen, insofern wäre es spannend, sich das anzuschauen. Das Problem ist, man müsste viele, viele Turniere berücksichtigen, um die Breite der Beobachtungen zu haben."

Dass die Körpergröße einen Einfluss auf das Gegenüber hat, lässt sich vermutlich auf andere Situationen im Alltag übertragen, in denen Personen von anderen Menschen bewertet werden.

In der Schule etwa, oder wenn es um Strafen bei der Polizei und im Gericht geht. Frühere Forschung hat immer wieder belegt, dass Aussehen, Geschlecht, Nationalität, Gewicht und Größe - auch wenn sie es nicht sollten - die Wahrnehmung des Gegenübers beeinflussen.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete MDR aktuell am 18. Juni 2024 um 14:54 Uhr.