Chili

Pflaster mit Chili-Wirkstoff Mit Schmerzen gegen Schmerzen

Stand: 14.12.2024 07:56 Uhr

Bis zu acht Millionen Menschen in Deutschland sind von Nervenschmerzen betroffen. Dagegen gibt es eine wirksame Therapie, die allerdings selbst schmerzhaft ist: ein Pflaster mit dem Wirkstoff Capsaicin.

Von Tilman Hassenstein, NDR

Nervenschmerzen sind besonders stark und quälend. Sie kommen als Folge von Verletzungen vor, nach einer Gürtelrose oder auch im Rahmen einer Polyneuropathie, bei der Nerven vor allem in den Füßen erkrankt sind.

Meistens verlaufen Nervenschmerzen chronisch und oft fortschreitend, wie bei einer Polyneuropathie. Sie äußern sich als starkes Brennen auf der Haut, gegen das herkömmliche Schmerzmedikamente, auch starke Opiate, nicht ausreichend wirken. Deshalb kommen bei Nervenschmerzen auch ungewöhnliche Mittel zum Einsatz: Antidepressiva und Wirkstoffe gegen Epilepsie. Sie können helfen, weil der neuropathische Schmerz auf andere Weise entsteht als sonstige Schmerzarten.

Aber auch diese Medikamente kommen oft an ihre Grenzen, oder haben zu gravierende Nebenwirkungen. Der Leidensdruck ist für Betroffene daher oft hoch. "Diese Brennschmerzen können zu einer Intensität führen, die für Patienten trotz medikamentöser Therapie unaushaltbar sind", sagt der Neurologe Daniel Wertheimer von der Schön Klinik Eilbek in Hamburg.

Heilsame Paprika

Thomas L. ist 78 Jahre alt. Er kennt Nervenschmerzen selbst aus leidvoller Erfahrung. "Auf einer Skala von 0 bis 10 habe ich immer gesagt zwischen neun und zehn, könnt ihr euch aussuchen. Ja, das ist ein sehr schwer erträglicher Schmerz." Er hat viele Medikamente genommen, auch eigentlich stark wirksame Opiate, aber dennoch unter stärksten Schmerzen gelitten, bis Daniel Wertheimer ihm die Pflastertherapie verordnete.

Zum Einsatz kommen kann die, wenn die Schmerzen lokalisiert in einem umschriebenen Areal auftreten. Das Pflaster enthält den Wirkstoff Capsaicin. Der wirkt auch in frei verkäuflichen Wärmepflastern. Aber das Schmerzpflaster enthält acht Prozent Capsaicin, eine vielfache Konzentration. Die niedrig dosierten Wärmepflaster wirken nicht gegen Nervenschmerzen.

Der in vielen Paprikasorten vorkommende Wirkstoff schmeckt nicht nur scharf, sondern wirkt auch scharf auf der Haut. Um gegen neuropathische Brennschmerzen zu wirken, muss es erstmal weh tun. Daniel Wertheimer erklärt das so: "Es kommt praktisch zu einem Sturm der Erregung über diese Nervenzellen. Das führt dazu, dass die Zellen immer unempfindlicher werden, sich erschöpfen und keine Schmerzinformationen mehr senden." Mit der Zeit regenerieren sich die Nerven nach einer Behandlung. Nach bisherigen Erfahrungen hält die Wirkung bis zu drei Monate an, die Behandlung kann wiederholt werden.

"Zuerst ist es gar nicht so schlimm"

Thomas L. hat diese Behandlung dreimal erlebt, am Oberschenkel, der Wade und der Fußsohle. "Das war Schmerz mit Schmerz besiegen, mit noch mehr Schmerz besiegen." 30 bis 60 Minuten bleibt so ein Pflaster auf der Haut. Zuerst sei es gar nicht schlimm, aber dann sei die Wirkung rasant gewesen, mit stark angestiegenem Puls. "Das war nachher so, als hätten Sie eine offene Wunde. Und es hätte Ihnen jemand Chili, scharfe Chili-Sauce reingegeben. So kann man sich das vorstellen."

Doch die Tortur hat sich für ihn gelohnt. "Es hat dazu geführt, dass ich weniger Tabletten nehmen muss, höhere Belastbarkeit habe, Auto fahren kann inzwischen wieder, geistig und physisch wieder mehr tun kann von dem, was ich früher konnte." Auch Daniel Wertheimer schätzt die Wirksamkeit des Chili-Pflasters bei seinen Patienten: "Die Langzeittherapieerfolge sind insbesondere bei Patienten, die therapieresistent gegen die medikamentöse Therapie waren und schwere Beschwerden hatten, über lange Sicht gesehen sehr gut - wenn die Therapie durchgestanden wird."

Zu selten verschrieben

Die Capsaicin-Pflastertherapie ist zugelassen und wird in der aktuellen Leitlinie zur Therapie von Nervenschmerzen empfohlen. Die Behandlung findet in der Regel ambulant unter Beobachtung statt. Die Wirkung ist so stark, dass der Blutdruck dabei in die Höhe schießen kann. Bei bestehendem Bluthochdruck ist Vorsicht geboten.

Als zugelassenes Medikament können die Pflaster zu Lasten der Kostenträger verwendet werden. Aber zu oft erhalten Menschen mit stärksten Schmerzen diese wirksame Therapie nicht. "In der Praxis wird sie noch zu selten angewendet", sagt Gidon Bönhof, Endokrinologe und Diabetologe am Deutschen Diabetes-Zentrum in Düsseldorf. Das liege an noch fehlendem Bewusstsein über diese Therapieoption, Unsicherheiten wegen der Kostenerstattung, aber auch an fehlenden Praxisräumlichkeiten, in denen die Betroffenen sich während der ca. 30-60 min dauernden Therapie aufhalten können. Doch letzteres Argument sei häufig nicht stichhaltig. "Das kann oft mit der entsprechenden Organisation und etwas Kreativität umgesetzt werden."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete der NDR am 26.11.2024 um 20.15 Uhr in der TV-Sendung Visite