Biodiversitätsziele der EU "Salto rückwärts" für den Artenschutz
Die EU-Staaten sind bei der UN-Biodiversitätskonferenz 2022 für ehrgeizige globale Ziele eingetreten. Inzwischen liegen in Europa zentrale Vorhaben brach. Wissenschaftler und Naturschützer sind empört.
Es sind ambitionierte Ziele, die sich die Weltgemeinschaft bei der UN-Biodiversitätskonferenz im Dezember 2022 im kanadischen Montreal gesteckt hat: 30 Prozent der Flächen weltweit an Land und in den Meeren sollen Schutzgebiete und ebenfalls 30 Prozent der geschädigten Ökosysteme renaturiert werden. Außerdem sollen weniger Schäden durch Dünger und Pestizide in der Agrarlandschaft entstehen.
Weitere Ziele: Abbau umweltschädlicher Subventionen und dazu mehr Geld für die weltweite Finanzierung des Artenschutzes. Deutschland und die EU waren als ambitionierte Verhandler aufgetreten. Denn mit ihrem eigenen "Green Deal" ging die EU in einigen zentralen Zielen des Naturschutzes sogar über die Ziele von Montreal hinaus - eigentlich. Denn nicht einmal eineinhalb Jahre später ist die Umsetzung einiger zentraler Vorhaben fürs erste gescheitert.
Ernüchterung bei Naturschützern
Nach der UN-Konferenz in Montreal gab es viel Enthusiasmus, sagt die Biologieprofessorin Katrin Böhning-Gaese, Direktorin des Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrums. Inzwischen habe sie aber den Eindruck, sagt Böhning-Gase, "hier gibt es eine Rolle rückwärts, um nicht zu sagen einen Salto rückwärts."
Dabei bezieht sie sich vor allem auf drei zentrale Maßnahmen der EU: Bereits im November hatte das Europäische Parlament ein Gesetz gekippt, das den Einsatz von Pestiziden in der Landwirtschaft hätte reduzieren sollen. Das Risiko durch den Einsatz von Pestiziden soll laut den Zielen von Montreal eigentlich bis 2030 halbiert werden. Die EU-Verordnung über die nachhaltige Verwendung von Pflanzenschutzmitteln (SUR) hätte das als Teil des Green Deal umsetzen sollen, fand aber keine Mehrheit.
Agrarumweltauflagen gelockert, Renaturierungsgesetz gestoppt
Ende März dann hatten die EU-Agrarminister als Reaktion auf die europaweiten Bauernproteste beschlossen, Umweltauflagen in der Gemeinsamen EU-Agrarpolitik (GAP) zu lockern. Dadurch soll vor allem die Pflicht, vier Prozent der landwirtschaftlichen Flächen zugunsten der Biodiversität stillzulegen, entfallen.
Und auch das Gesetz zur Wiederherstellung der Natur konnte zuletzt mangels Mehrheit unter den Mitgliedsstaaten nicht wie geplant verabschiedet werden. Dieses Renaturierungsgesetz (EU Nature Restoration Law) hat eigentlich zum Ziel, bis 2030 in mindestens 20 Prozent der geschädigten Ökosysteme an Land und in den Meeren Wiederherstellungsmaßnahmen zu ergreifen.
Konkret bedeutet das: Moore wiederzuvernässen, Wälder aufzuforsten, Flüssen wieder zu ermöglichen, frei zu fließen, aber auch mehr Grün in den Städten. "Maßnahmen, bei denen man eigentlich stolz war auf Europa und dachte, das geht genau in die richtige Richtung", meint die Biologin Böhning-Gaese; doch jetzt stoße man an allen Ecken auf massive Widerstände.
Umweltverbände fürchten um Biodiversität in der Agrarlandschaft
Naturschutzverbände haben insbesondere nach den Entscheidungen zur Brachflächenpflicht in der Agrarpolitik empört reagiert. So sagt etwa NABU-Präsident Jörg-Andreas Krüger: "Wir sind fassungslos, wie schnell hier Umweltrecht rückabgewickelt wird und wie schnell Politik vergessen hat, was die sich selbst vorgenommen hat."
Die Naturschützer weisen vor allem daraufhin, dass besonders in der Agrarlandschaft die Biodiversität etwa bei Insekten oder den Feldvögeln in den vergangenen Jahrzehnten massiv zurückgegangen ist. Die ursprünglich vorgeschriebenen Brachflächen hätten hier ein wichtiger Baustein, als Lebensraum für Insekten und Vogelarten sein können. Der Wegfall tue "wirklich weh", sagt NABU-Präsident Krüger.
Reinhild Benning, Agrarexpertin bei der Deutschen Umwelthilfe, sagt: "Diese Räume sind in der Vergangenheit immer weniger geworden, und werden jetzt noch einmal weniger." So könne die EU die Verpflichtungen für den Artenschutz, die in Montreal unterzeichnet wurden, nicht einhalten.
"Setzen uns für Fortführung des Green Deal ein“
Vom in Deutschland zuständigen Bundesumweltministerium mit Ministerin Steffi Lemke (Grüne) heißt es, die Bundesregierung setze sich in Gesprächen mit den Mitgliedsstaaten und der Kommission für eine ambitionierte Fortführung des European Green Deal ein. Letztlich werde aber auch die anstehende Europawahl maßgeblich beeinflussen, wie viel Durchsetzungskraft die Klima- und Umweltpolitik der Europäischen Union in den kommenden Jahren haben werde.
Eine Sprecherin teilt außerdem mit, das Ministerium beobachte aktuell eine Polarisierung und nachhaltige Entfremdung, zumindest von Teilen der Landwirtschaft, vom Umweltschutz. Jahrzehnte lange verfehlte Agrarpolitik habe hier großen Schaden angerichtet und viel Vertrauen vor Ort verspielt.
Das Ministerium setze sich zusammen mit dem Bundeslandwirtschaftsministerium für Verbesserungen der Gesetzgebung der GAP ein, um zum Beispiel Biodiversitätsleistungen stärker zu fördern. Was das Renaturierungsgesetz angeht, werbe die Bundesregierung bei allen europäischen Partnern für eine zeitnahe Verabschiedung dieser wichtigen Naturschutzgesetzgebung.
"Deutschland muss sich eigentlich schämen"
Was das Ziel von Schutzgebieten auf 30 Prozent der Flächen bis 2030 angeht, sieht es laut Katrin Böhning-Gaese zum Teil "gar nicht so schlecht" aus. Deutschland habe gerade die erste Charge von Schutzgebieten an die EU gemeldet. Doch bei der Qualität der Schutzgebiete sieht die Expertin das ganz anders: Die EU hat sich im Green Deal vorgenommen, zehn Prozent der Flächen, also ein Drittel der Schutzgebiete streng zu schützen. Eine Maßgabe, die über die Ziele von Montreal hinaus geht. International hatte es dafür keine Mehrheit gegeben.
Nun ist die Frage, wie "strenger Schutz" aussieht. "Nach den Kriterien der Weltnaturschutzunion wären das Gebiete, wo fast kein menschlicher Eingriff stattfindet, wo man die Natur wirklich Natur sein lässt", sagt Böhning-Gaese. Das sei hierzulande aber nicht unbedingt der Fall. Als Beispiel nennt sie den Nationalpark Wattenmeer, in dessen Kernzone weiterhin legal Fischerei betrieben werde: "An dem Punkt müsste sich Deutschland eigentlich schämen und den wirksamen Schutz gerade in diesen besonderen Schutzgebieten, den Nationalparks, besser durchsetzen."
"Das wird uns auf die Füße fallen"
Insgesamt urteilt NABU-Präsident Krüger, derzeit fehle angesichts der anderen kriegerischen Krisen beim Naturschutz der mittel- bis langfristig gedachte Weg nach vorne. "Das wird uns auf die Füße fallen, da müssen wir wieder ran als Gesellschaft", sagt Krüger. "Wer jetzt nicht handelt, macht es später schmerzhafter und teurer."
Biologin Böhning-Gaese hofft derweil darauf, dass zumindest das EU-Renaturierungsgesetz doch noch verabschiedet wird. Das habe aus ihrer Sicht derzeit die höchste Priorität: "Es ist ein ambitioniertes Gesetz, das wirklich einen Unterschied machen würde." Europa würde es beim Naturschutz zum Vorreiter machen, so die Biologin.