Jair Bolsonaro wird auf einer Kundgebung in Rio de Janeiro (Brasilien) von Anhängern gefeiert und winkt ihnen zu.
weltspiegel

Brasiliens wacklige Demokratie  "Wir wissen jetzt, dass wir immer wachsam sein müssen"

Stand: 21.07.2024 11:11 Uhr

Brasiliens Justiz hat nach dem versuchten Sturm auf die Regierungszentrale 2023 viele Beteiligte verurteilt, und doch tut sich das Land schwer damit, die Strippenzieher zur Verantwortung zu ziehen. Woran liegt das?

Die Bilder ähnelten sich in makaberer Art und Weise: der Sturm auf das Kapitol in Washington 2021 und die Gewalt am Regierungssitz in Brasilia, mit Kongress und Oberstem Gerichtshof, zwei Jahre später.

Der zu diesem Zeitpunkt schon aus dem Amt geschiedene Ex-Präsident Jair Bolsonaro hatte den gesamten Wahlkampf über von Wahlfälschung gesprochen, den elektronischen Wahlmaschinen nicht getraut und seine Zweifel über staatliche Fernsehsender geäußert. Das sollte für ihn später noch ernste Folgen haben, auch wenn er danach jede Verantwortung für die Ereignisse abstritt.

Eine Woche nach der Amtseinführung des neuen Präsidenten Lula da Silva setzte sich ein vielköpfiger Mob in Bewegung, stürmte das Kongressgebäude, den Sitz des Präsidenten und das Oberste Gericht und zerschlug alles, was in die Hände zu bekommen war.

Brasilien - die bessere Demokratie?

Xenia Böttcher, ARD Rio de Janeiro, Weltspiegel, 14.07.2024 18:30 Uhr

Am seidenen Faden

An diesem Tag hing die demokratische Ordnung des südamerikanischen Landes am seidenen Faden. Die Kongresspolizei war erkennbar in der Unterzahl und überfordert mit der unerwarteten Situation. Die Auflösung der gefährlichen Situation musste indes mit Fingerspitzengefühl erfolgen.

Zu wenig Gegenwehr hätte den antidemokratischen Kräften jeden Spielraum zum Umsturz gegeben, zu viel Gegenwehr, sprich: Ein Einsatz des Militärs, hätte Brasiliens Generälen einen Freibrief für einen Putsch gegeben.

Schließlich gewann die eintreffende Polizei und die Militärpolizei die Oberhand und die Vandalen konnten zurückgedrängt werden. Die anschließende Aufarbeitung der Vorfälle und die Offenlegung der Hintergründe, die das Szenario erst ermöglicht hatten, ist entscheidend für die aktuelle Wehrhaftigkeit der Demokratie. 

Eine schockierende Erinnerung

Für Mayra Goulart, Politikwissenschaftlerin der Universität Rio de Janeiro, haben sich entscheidende Faktoren, die schon damals den Putschversuch beflügelt hatten, nicht verändert: "Viele Personen, die an diesem Staatsstreich und an Vortreffen teilgenommen haben, hatten Positionen inne, deren eigentlicher Zweck es ist, die Rechtsstaatlichkeit zu garantieren - Militärs und Beamte der staatlichen Bürokratie."

Zum Glück für die gerade neugewählte Regierung Lula da Silva war ein großer Teil der Brasilianer von den Ereignissen geschockt und fühlte sich an die erst vierzig Jahre zurückliegende Militärdiktatur erinnert. Jede Form von Konfrontation, insbesondere mit Militärs, die viele noch ältere Brasilianer miterlebt haben, ist dem Volk heute zuwider. Deshalb bekam die aufgebrachte Menge keinen großen Zulauf aus der Bevölkerung.  

1.400 Teilnehmer des Putschversuches wurden in den darauffolgenden Tagen festgenommen. Viele von ihnen bekamen mehrjährige Haftstrafen. Wer nahezu ungeschoren davonkam, waren politische und militärische Strippenzieher, diejenigen, die nicht eingriffen oder den Putschisten Vorschub geleistet hatten.

Ein General, der Präsident Lula mit der Kraft seiner Militärs offen drohte und der Sicherheitschef des Präsidentenpalastes verloren ihre Posten. Weitere Strafen wurden für sie nicht verhängt.

Anhänger von Jair Bolsonaro stürmen im Januar 2023 den Kongress in Brasilia (Brasilien)

Ein Schockmoment für Brasilien: Bolsonaro-Anhänger stürmen im Januar 2023 den Kongress in der Hauptstadt Brasilia.

Militär behielt seinen Einfluss

"Es gibt hier eine Scheu, Militärangehörige zu bestrafen. Man traut ihnen immer eine destabilisierende Kraft zu, und deshalb haben Politiker eine gewisse Angst, sie gegen sich aufzubringen", begründet Politikwissenschaftlerin Goulart das Vorgehen. Ihrer Meinung nach liegt der Ursprung dafür im Übergang von der Militärdiktatur (1964-1985) zu den ersten freien Wahlen.

Die Wirtschaft schwächelte damals schon einige Jahre und dem Militärregime fehlte die Unterstützung aus dem Ausland. So kam es zu einem Kompromiss für freie Wahlen, der den ehemaligen Machthabern weiterhin politische Beteiligung ermöglichte. Ihre Gräueltaten an der Bevölkerung aber wurden nicht aufgearbeitet.

"Darin liegt der Ursprung unserer jüngeren Demokratie", sagt Mayra Goulart. "Teile der Diktatur, also Militärs und politische Eliten, hatten nicht nur weiterhin Einfluss auf die Politik, sondern auch auf die Ausbildung der folgenden Generation. So konnte die antidemokratische Kultur in Brasilien fortbestehen." 

Oberstes Gericht erkennt Verfassungsverstoß

Daran änderte sich auch nach dem Putschversuch von 2023 nichts, allerdings erfolgte eine sehr viel intensivere Aufarbeitung. Neben den vielen Verurteilungen von Beteiligten wurde auch Ex-Präsident Bolsonaro der Prozess gemacht. Am Ende der Beweisaufnahme entschied Brasiliens Oberster Wahlgerichtshof, dem rechtsextremen Politiker bis Mitte 2030 das passive Wahlrecht zu entziehen. Bei der nächsten Wahl 2026 kann er also nicht antreten.

Das Gericht begründete seine Entscheidung damit, dass Bolsonaro im staatlichen Fernsehen behauptet hatte, die Wahlmaschinen seien nicht zuverlässig. Damit hatte er den Wahlausgang angezweifelt und bei seinen Anhängern den Irrglauben gesät, sie seien als selbsternannte Verteidiger der Ordnung im Recht.  

Der Missbrauch eines Senders für eigene Zwecke ist aber ein Verstoß gegen die Verfassung. Die verbietet in Artikel 73 "öffentlichen Bediensteten die Nutzung von Materialien und Dienstleistungen, die vom Staat finanziert werden, wenn sie dazu genutzt werden, die Chancengleichheit zwischen den Kandidaten bei Wahlkämpfen zu beeinträchtigen".

"Die Leute dachten, die Wahl sei gestohlen worden"

Jack Nicas berichtete 2001 für die New York Times über den Putschversuch und hat den direkten Vergleich mit dem Sturm auf das Kapitol seines Landes. Sein Artikel am Tag danach trug den Titel: "Ein Fall von Massenwahn". Er habe sich für diese Überschrift entschieden, berichtet er, "weil all diese Menschen davon überzeugt waren, dass die Wahl gestohlen wurde und sie alle fälschlicherweise dachten, sie müssten das Land retten".

Nicas hält Social-Media-Blasen für einen der Hauptauslöser solcher Vorfälle:

Im gleichen Land können die Menschen sehr unterschiedliche Wahrnehmungen der Realität haben, wenn ihr Kandidat behauptet, die Wahl sei gestohlen worden. Sie glauben, ihr Kandidat schütze die Demokratie und ohne ihn sei die Wahl bedroht, weil ihnen das immer wieder eingeflößt wurde.
Jack Nicas

Der US-Korrespondent Nicas bezeichnet den Sturm auf Brasiliens Regierungssitz als eine Form des "Massenwahns".

Politische Vielfalt als Schutzfaktor

Allerdings hält Nicas Brasiliens Demokratie für weitaus weniger bedroht als Politikwissenschaftlerin Goulart. In Brasilien, argumentiert er, gebe es "ein sehr fragmentiertes System vieler politischer Parteien" - anders als in den USA, wo sich die politische Auseinandersetzung im Wesentlichen auf zwei große Kräfte konzentriere, auf Demokraten und Republikaner. "Da ist es naheliegend, dass sich die Kritik der einen Seite nur auf die jeweils andere Seite konzentriert."

Tatsächlich ist Polarisierung auch in Brasilien ein Thema, aber bei 30 wählbaren Parteien auf Bundesebene sind die Alternativen deutlich größer. Dennoch ist man hier entweder für oder gegen Jair Bolsonaro, beziehungsweise jetzt, da er nicht mehr antreten darf, für oder gegen seine Partei.

Julia Dualibi

Die Journalistin Julia Dualibi ist überzeugt davon, dass die große Mehrheit der Brasilianer keine Sehnsucht nach einer neuen Diktatur verspürt.

Der Schlüssel für Standhaftigkeit

Die politische Polarisierung sieht auch die brasilianische Politikjournalistin Julia Dualibi vom Fernsehsender Globo News, sie erkennt auch ein anderes Element. Fast alle Brasilianer vereine ein Wunsch: Sie wollten nie mehr in einer Diktatur unterdrückt werden. Hier, so sagt Dualibi, liege der Schlüssel für die Standhaftigkeit der Demokratie in ihrem Land.

Das sei auch der Grund, warum die Demokratie während des Putschversuches im Januar 2023 nicht gefallen ist: "Brasilien hat in der Militärdiktatur eine schlimme Tortour durchlitten und wir sind stark daraus hervorgegangen. Der Putschversuch war eine großartige Lektion für uns, weil er uns gezeigt hat, dass unsere Demokratie stark ist. Wir haben noch kein Happy-End, weil die Extremisten immer noch da sind, aber wir wissen jetzt, dass wir immer wachsam sein müssen." 

Oliver Neuroth, ARD Berlin, zzt. Rio de Janeiro, tagesschau, 12.07.2024 18:20 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete der Weltspiegel am 14. Juli 2024 um 18:30 Uhr.