Erdogans Herausforderer Kilicdaroglu Weg vom Schmusekurs mit Moskau
Kilicdaroglus Aussichten auf einen Sieg bei der Präsidentschaftswahl in der Türkei schwinden - und damit auch die Hoffnungen, die in EU und NATO auf ihn gesetzt wurden. Denn der Oppositionelle steht für eine andere Außenpolitik.
Wenn Kemal Kilicdaroglu, der Chef der CHP und Kandidat eines Parteienbündnisses, in der Stichwahl am kommenden Sonntag den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan ablösen sollte, will er auch die Außenpolitik neu justieren.
Im Wahlkampf hat Kilicdaroglu immer wieder deutlich gemacht, dass er einen Wechsel, eine neue Tonlage in der Außenpolitik will: mehr westlich orientiert, weg vom Schmusekurs gegenüber Russland.
Strategischer Kompass nach Westen
Unter Kilicdaroglu würde es wohl keine Männerfreundschaft mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin geben. Das wurde auch in einem Twitter-Post Kilicdaroglus kurz vor dem ersten Durchgang der Wahlen klar. Er warnte Russland vor einer Einmischung und einer Beeinflussung der Wahlen. "Lasst die Finger vom türkischen Staat", schrieb er. Eine deutliche Botschaft gegenüber Moskau - obwohl man "ein ausgewogenes Verhältnis" anstrebe.
"Der strategische Kompass geht ganz klar nach Westen", sagt Kristian Brakel von der Heinrich-Böll-Stiftung. Der politische Analyst meint aber, dass die Türkei auch unter Kilicdaroglu nicht alle westlichen Positionen übernehmen würde. So würde die Türkei sich wohl nicht den Sanktionen gegen Russland anschließen.
Weg von der Ein-Mann-Politik
Sollte Kilicdaroglu gewinnen, würde auf ihn nach den Wahlen eine Mammutaufgabe warten, sagt Gonül Tol, Direktorin des Nahost-Instituts für türkische Politik in Washington - mit dem Wiederaufbau und der Stärkung von Institutionen wie etwa dem Außenministerium.
Erdogan hatte die Macht des Präsidenten zunehmend auf Kosten des Regierungskabinetts ausgebaut. Auch die Außenpolitik wird mittlerweile in erster Linie von ihm bestimmt. In ihrem Buch über die Machtpolitik von Erdogan, "Erdogans' War", beschreibt Tol, dass die Politik des Präsidenten nur einem Ziel diene: dem Machterhalt.
Diese Politik könnte sich unter Kilicdaroglu ändern. Dem Außenministerium müssten wieder mehr Kompetenzen zugeordnet werden, so Tol. Die Türkei könnte dann berechenbarer werden.
Zwischen Kontinuität und Wandel
Doch außenpolitische Wunder dürften von einer neuen Regierung kaum zu erwarten sein. "Nationale Interessen und Gefühle werden weiter dominieren", meint der Politikberater Suat Özcelebi.
Zu Russland will das sehr heterogene Sechserbündnis von Kilicdaroglu ebenso gute Beziehungen pflegen wie zu den USA. Im Ukraine-Krieg sieht es die Türkei weiter als Vermittler.
Zum NATO-Beitritt Schwedens findet Kilicdaroglu klare Worte. Er werde die Erweiterung unterstützen: "Natürlich" sei er mit Schwedens Beitritt einverstanden.
Aggressive Flüchtlingspolitik
Das Nachbarland Griechenland guckt mit Sorge auf die extrem nationalistische Iyi-Partei, die Teil der Allianz um Kilicdaroglu ist. Doch für das Verhältnis zur EU dürfte die größte Herausforderung die Migrationsfrage werden.
Immer wieder haben Kilicdaroglu und andere Vertreter seines Bündnisses angekündigt, die etwa dreieinhalb Millionen syrischen Flüchtlinge möglichst schnell in ihre Heimat zurückschicken zu wollen. Mit dem Zusatz, dass vorher dort die Struktur für diese Rückführung geschaffen werden müsse. Deshalb hat Kilicdaroglu immer angekündigt, das Verhältnis zum syrischen Präsidenten Baschar al-Assad verbessern zu wollen.
Vor der Stichwahl hat der Herausforderer noch einmal den Ton verschärft, wohl auch, um das starke nationalistische Lager auf seine Seite zu ziehen. "Ich erkläre, dass ich alle Flüchtlinge nach Hause schicken werde, sobald ich an die Macht komme. Punkt." Mit diesen Worten greift er die Flüchtlingspolitik Erdogans an, macht ihn dafür verantwortlich, "zehn Millionen Flüchtlinge" ins Land gelassen zu haben. Außenpolitik sei in der Türkei immer Innenpolitik, beschreibt Gonül Tol die Logik, der alle politischen Lager folgten.
Forderungen an die EU
Den sogenannten Flüchtlingspakt mit der EU will Kilicdaroglu neu verhandeln. Die EU würde sich wohl auf harte Verhandlungen einstellen müssen. Am Ende könnte eine Einigung stehen, bei der es um viel Geld geht. Und um eine konkrete EU-Beitrittsperspektive für die Türkei.
Auch das würde eine neue Regierung schnell ändern wollen, wie Kilicdaroglu im Wahlkampf versprach: Innerhalb von nur drei Monaten solle es für türkische Staatsbürger bei Reisen in die EU Visafreiheit geben. Bisher ist selbst ein kurzer Besuch nicht ohne Visum möglich, von einem Urlaub ganz zu schweigen. Die Hürden für ein Visum sind hoch, für viele ist es zudem kaum erschwinglich.
Ein neuer Stil?
Auch wenn sich die Außenpolitik nur langsam verändern würde - der politische Stil dürfte ein anderer werden. Kilicdaroglu will offenbar nicht wie sein Vorgänger als Alleinherrscher auftreten. Er will zurück zur parlamentarischen Demokratie und mehr Institutionen sowie Personen in seine Politik einbinden. Das könnte die Gespräche mit außenpolitischen Partnern erleichtern.
Kilicdaroglu gilt zwar bei vielen als etwas blasser Bürokrat, aber auch als umgänglich und als verlässlicher Politiker. Das könnte ihm bei der schwierigen Aufgabe der politischen Neuausrichtung durchaus helfen. Und auch bei einem Neubeginn in den Außenbeziehungen.