Nach Raketeneinschlag in Gaza "Tief sitzendes Gefühl einer großen Ungerechtigkeit"
Gleich wer am Ende für den Raketeneinschlag in Gaza verantwortlich ist - an der Empörung in den arabischen Staaten wird das nichts ändern, sagt der Nahost-Experte Reinicke. Was bedeutet das für Israel - und die gesamte Region?
tagesschau.de: Wir sprechen zu einem Zeitpunkt, wo es Hinweise auf den Hergang des Raketenangriffs gibt, aber noch keinen unzweifelhaften Beweis. Aus westlicher Sicht spricht viel für die Erklärung der israelischen Armee, die den Islamischen Dschihad verantwortlich macht. Die Hamas dagegen spricht von einem israelischen Angriff. Wie viel Gehör gibt es Ihrer Einschätzung nach in der arabischen Welt noch für Zweifel an der Darstellung der Hamas?
Andreas Reinicke: Ich fürchte, dass diese eigentlich wichtige Frage politisch kaum noch eine Rolle spielen wird. Denn die arabischen Medien und auch die meisten Regierungen haben sich die Interpretation zu eigen gemacht, dass es sich um einen israelischen Angriff handelt. Nicht nur deswegen sind die Bevölkerungen höchst empört, sind auf den Straßen in Ramallah, in Amman und anderswo. Was immer eine spätere Untersuchung bringen wird, wird für diese Empörung nicht mehr relevant werden.
Dr. Andreas Reinicke ist Direktor des Deutschen Orient-Instituts in Berlin. Der frühere Diplomat leitete von 2001 bis 2004 das Vertretungsbüro bei der Palästinensischen Autonomiebehörde in Ramallah und war später deutscher Botschafter in Syrien und Tunesien. 2012 bis 2013 war er EU-Sonderbeauftragter für den Friedensprozess im Nahen Osten.
"Emotionen durch die Besetzung in der Westbank geprägt"
tagesschau.de: Wie erklären Sie sich aber, dass das Entsetzen der westlichen Staaten über den Hamas-Angriff vom 7. Oktober in den arabischen Staaten nicht feststellbar ist - trotz des Verschleppens von Geiseln, trotz des Tötens von Babys, des Hinrichtens von Holocaust-Überlebenden?
Reinicke: Dazu muss man die Befindlichkeiten der arabischen Welt verstehen, die ganz anders geprägt sind. In Bezug auf Israel ist die Emotion vor allem durch die Besetzung Israels in der Westbank und in Gaza geprägt, durch Streitigkeiten und Gewalt von Siedlern gegenüber Palästinensern, durch Angriffe auf Ernten, durch Häuserabrisse, auch durch den fortschreitenden Siedlungsbau.
Darüber wird in den arabischen Medien viel breiter berichtet als bei uns und hat, neben vielen anderen Aspekten, in der arabischen Bevölkerung das tief sitzende Gefühl einer großen Ungerechtigkeit hervorgerufen. Und dieses Gefühl kommt im Augenblick viel mehr zum Tragen als das Entsetzen über die Bilder, das bei uns prägend ist.
Hinzu kommt, dass in den arabischen Medien generell sehr viel explizitere Bilder von Gewalt in Konflikten gezeigt werden, als dies bei uns der Fall ist - zum Beispiel aus dem Jemen oder aus Syrien -, sodass man diese Art von Bildern dort leider kennt.
"Man muss leider mit solchen Ereignissen rechnen"
tagesschau.de: Wir müssen, solange wir noch keine endgültige Gewissheit haben, auch fragen, was es umgekehrt für Israel bedeuten würde, wenn der Vorwurf der Hamas, dass es hier sich um einen israelischen Raketenangriff gehandelt habe, zutreffend wäre.
Reinicke: Israelis müssen leider immer wieder mit solchen grässlichen Vorfällen in einem dicht besiedelten Gelände wie Gaza rechnen. Israel bemüht sich, nur militärische Ziele anzugreifen. Aber die Trennung zwischen militärisch und zivil ist häufig sehr schwierig. Aus der Luft ist das schlecht zu erkennen. Außerdem wissen wir, dass militärische Ziele wie Operationszentralen der Hamas auch in zivilen Gebäuden angesiedelt sind.
Israel versucht, möglichst wenige solcher Ziele anzugreifen und hat sogar eine eigene Rechtsabteilung für die völkerrechtliche Bewertung dafür. Aber in der aktuellen Lage muss man leider mit solchen furchtbaren Ereignissen rechnen, wenn es denn tatsächlich Israel zuzuschreiben ist. So ein Ereignis wie in Gaza bleibt auch bei der israelischen Bevölkerung nicht ohne Wirkung, unabhängig davon wer Verursacher ist.
Das macht die Sache für Israel nicht einfacher, aber ich nehme an, dass diese Einschätzung auch das Gefühl in der israelischen Bevölkerung dominieren wird - solange es nicht eindeutig ein Fehler ist, der der israelischen Armee zuzurechnen ist.
"Zeigen, dass Israel verwundbar ist"
tagesschau.de: Glauben Sie, dass solche Ereignisse auch Teil des Kalküls der Hamas sind?
Reinicke: Absolut - das ist das Kalkül der Hamas. Sie will der arabischen Öffentlichkeit zeigen, dass Israel verwundbar ist, nicht so dominant, wie man geglaubt hat. Deswegen wird dieser furchtbare Angriff als ein militärischer Erfolg dargestellt. Wenn Israel in den Gazastreifen einmarschiert und der Krieg lange dauern und verlustreich sein sollte, würde Hamas dies als einen weiteren Erfolg darstellen.
Verbunden mit den zu erwartenden zivilen Opfern ist es der perfide Plan von Hamas, auf diesem Wege die arabischen Bevölkerungen auch gegen die eigenen Regierungen in Stellung zu bringen.
tagesschau.de: Israel schreibt den Raketenangriff dem "Islamischen Dschihad" zu. Wie sehen Sie dessen Rolle im Gazastreifen gegenüber der Hamas?
Reinicke: Der "Islamische Dschihad" wurde schon immer direkt vom Iran unterstützt. Das galt bei Hamas weniger. Beide sind Konkurrenten. Aber man muss befürchten, dass in dieser Auseinandersetzung beide zusammen agieren werden.
Allerdings kann ich mir auch vorstellen, dass der "Dschihad" auch Aktionen innerhalb von Gaza oder außerhalb starten wird, um Hamas zu schaden. Im Augenblick unterstelle ich eine gleichgerichtete Zusammenarbeit. Das kann sich später wieder ändern.
"Das Problem ist regelrecht explodiert"
tagesschau.de: Einige Staaten in der unmittelbaren Nachbarschaft Israels haben mit Israel schon lange kooperiert, andere haben sich in den vergangenen Jahren angenähert. Was bedeutet das jetzt für die?
Reinicke: Israel, Ägypten und Jordanien haben schon 1979 beziehungsweise 1994 einen Friedensvertrag geschlossen. Allerdings wurde die Frage nach der Zukunft der palästinensischen Gebiete offen gelassen, mit dem Ziel, sie baldmöglichst zu lösen. Da das noch nicht geschehen ist, haben diese Regierungen ständig einen potenziellen Konflikt mit ihren eigenen Bevölkerungen.
Andere Staaten wie Sudan, Marokko, Bahrain, die Vereinigten Arabischen Emirate haben ebenfalls eine Lösung dieser Frage gefordert, waren aber bereit, diesen Prozess zunächst mit dem Aufbau von Beziehungen zu Israel zu starten und die Palästina-Frage im Zuge dessen zu lösen.
Saudi-Arabien, das mit den USA und Israel mit dem Zweck einer Annäherung an Israel verhandelt hat, hat eine Lösung der Palästina-Frage explizit als Bedingung für eine Annäherung genannt. Ich gehe davon aus, dass nach diesen schrecklichen Ereignissen die Annäherungen im besten Falle auf Eis gelegt werden und es im schlimmsten Falle sogar Rückschritte geben kann.
"Konflikt nicht im Interesse der Regierungen"
tagesschau.de: Dabei war die ursprüngliche Reaktion der arabischen Staaten auf die Ereignisse ja sehr zurückhaltend.
Reinicke: Richtig. Die Arabische Liga hat zum ersten Mal auf einer Sondersitzung der Außenminister den Terror-Angriff explizit verurteilt. Es entspricht absolut nicht dem Interesse der arabischen Regierungen, jetzt einen Konflikt mit Israel zu haben. Sie haben genug damit zu tun, die Erneuerung ihrer Gesellschaften voranzubringen und wirtschaftliche Fragen zu lösen. Aber aus den genannten Gründen sind sie unter Zugzwang geraten.
tagesschau.de: Es gibt die These, dass auch dies auch ein Ziel der Hamas bei ihren Attacken war. Teilen Sie das?
Reinicke: Ja, das glaube ich. Denn wenn die Vereinbarung mit Saudi-Arabien zustande gekommen wäre, wäre das ein wichtiger Schritt gewesen, den man nur unter Schwierigkeiten hätte zurückzudrehen können.
Ägyptens Spagat
tagesschau.de: Die Hamas steht der Muslimbruderschaft in Ägypten nahe, die dort wiederum verfolgt und unterdrückt wird. Der Präsident Abdel Fattah al-Sisi hat gegen sie geputscht. Macht das die Unterstützung für die Hamas schwieriger oder steht auch das im Moment zurück?
Reinicke: Für Ägypten war Gaza immer ein Problem. Israel hätte gerne den Gazastreifen an Ägypten abgetreten. Ägypten hat das in den 1990er-Jahren sofort abgelehnt, weil es genügend eigene Probleme hatte und heute noch mehr hat - mit Flüchtlingen aus dem Sudan, aus Libyen, auch aus Syrien und natürlich auch Palästinenser.
Dazu kommt die Verbindung zwischen Muslimbrüderschaft und zumindest Hamas, sodass man möglicherweise eine Stärkung der Muslimbrüder im eigenen Lande befürchtet. Aber das, was einige Israelis sich vorstellen, dass die Bevölkerung Gazas in Ägypten Platz findet, werden die Ägypter nie akzeptieren und die Palästinenser auch nicht.
"Flächenbrand ist ein mögliches Szenario"
tagesschau.de: Ist die Gefahr eines Flächenbrands mit einem solchen Ereignis wie dem Raketeneinschlag in Gaza noch wahrscheinlicher geworden?
Reinicke: Ein Flächenbrand ist zumindest nach wie vor ein mögliches Szenario. Wir können nicht in die Zukunft gucken, aber der Angriff auf das Krankenhaus zeigt, wie sehr die arabische Bevölkerung in Aufruhr gerät. Man kann sich ausrechnen, dass bei weiteren vergleichbaren oder noch schlimmeren Ereignissen das noch stärker wird. Und je länger ein solcher Konflikt dauert, desto größer ist die Gefahr vergleichbarer Vorfälle und die Möglichkeit, dass die arabischen Bevölkerungen ein härteres Vorgehen ihrer Regierungen fordern
Das kann auch für die Hisbollah im Süd-Libanon gelten. Hisbollah hat sich über den Kampf gegen Israel definiert. Und selbst wenn sie es vielleicht gar nicht will, könnte sie sich durch den öffentlichen Druck gezwungen sehen, dort einzugreifen. Und dann haben wir noch das Westjordanland, wo schon vor Wochen von einer möglichen dritten Intifada geredet wurde.
Wenn diese auch noch hinzukommt, sind wir einem Flächenbrand schon sehr nahe, der zumindest für Israel sehr gefährlich werden kann. Und niemand kann beurteilen, ob es noch andere Regierungen oder Regionen erfasst.
tagesschau.de: Kann die US-amerikanische Präsenz einen Flächenbrand verhindern?
Reinicke: Die US-amerikanische Präsenz durch die beiden Flugzeugträger kann einen Flächenbrand oder eine Attacke von Hisbollah sicherlich deutlich erschweren und sie hoffentlich davon abhalten. Das ist ein starkes Signal. Aber wenn der Druck sehr groß ist, reicht dieses möglicherweise nicht, um eine Ausweitung der Kämpfe zu verhindern.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de
In einer früheren Version dieses Interviews hieß es, Ägypten und die Palästinenser würden niemals akzeptieren, dass die Bevölkerung Gazas in Israel Platz findet. Gemeint war, dass die Bevölkerung Gazas in Ägypten Platz findet. Wir haben die Passage entsprechend korrigiert.
Mehr zum Hintergrund dieser und anderer Korrekturen finden Sie hier: tagesschau.de/korrekturen