Olaf Scholz steht, umringt von Bodyguards, mit einer Kerze in der Hand am Dizengoff Square im Zentrum von Tel Aviv.
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Scholz-Reise nach Nahost Nur ein Auftakt

Stand: 18.10.2023 19:14 Uhr

Nach dem Großangriff der Hamas auf Israel besucht Bundeskanzler Scholz die Region. Er will damit Solidarität zeigen, aber auch die Krisendiplomatie vorantreiben. Das könnte in nächster Zeit häufiger vorkommen.

Eine Analyse von Corinna Emundts, ARD-aktuell, tagesschau.de

Er wollte diesmal zu den Ersten gehören. Und so reiste Olaf Scholz als einer der ersten Regierungschefs nach dem brutalen Angriff der Hamas auf die israelische Zivilbevölkerung nach Tel Aviv. Vor ihm waren nur der rumänische Ministerpräsident, die Präsidentin der EU-Kommission und die des Europäischen Parlaments vor Ort.

Was bewog ihn zu dieser Eile? Scholz weiß zum einen, dass ihm hier eine Schlüsselrolle in der Krisendiplomatie zukommt, auch im Gespräch mit Israels Anrainerstaaten Ägypten und Jordanien. Und für die immens unter den Terrorfolgen und Israels Gegenreaktion leidende Zivilbevölkerung im Gazastreifen rennt die Zeit davon. Es fehlt an allem - Wasser, Medikamenten und anderen Versorgungsgütern.

Zugleich sorgt sich Scholz um die Geiseln der Hamas, unter denen auch Deutsche sind. Er wird versuchen, Doppelstaatler aus dem Krisengebiet herauszubekommen.

Schneller Entschluss

Aber womöglich hat Scholz auch aus der Kritik von vielen Seiten eine Lehre gezogen, was sein langes Zögern nach dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine angeht. Er reiste 2022 spät - für viele zu spät - nach Kiew, um die deutsche Unterstützung persönlich vor Ort zu demonstrieren. Er habe das schlicht verbockt, kann man auch in außenpolitischen Expertenkreisen in Berlin hören.

Im Zweifel wird ihm der schnelle Entschluss, sofort ins Krisengebiet zu reisen, aus einem Grund leichter gefallen sein: Weil momentan von Deutschland keine größeren Waffenlieferungen in die Region seitens der Israelis erwartet werden - anders als in der von Russland angegriffenen Ukraine.

SPD-Co-Chef Lars Klingbeil sagte dazu im Bericht aus Berlin: "Israel ist gerade dabei, die Wunden der Opfer zu heilen." Es sei noch nicht der Zeitpunkt zu definieren, wie weit man in der Unterstützung gehe und wo man mit der Unterstützung aufhöre.

Lars Klingbeil, Vorsitz SPD, Hilfe für Israel - Ukrainekrieg nicht aus dem Blick verlieren

Bericht aus Berlin, 15.10.2023 18:00 Uhr

Sirenen heulen

Für militärische Unterstützung sind zunächst einmal die US-Amerikaner an der Seite Israels zuständig. Und anders als in der Ukrainepolitik und der kontrovers diskutieren Frage der Waffenlieferungen steht die Ampelkoalition, aber auch speziell seine Partei voll hinter seiner aktuellen Mission in Nahost.

Nun ist er so schnell angereist, zu einem so frühen Zeitpunkt nach dem Hamas-Angriff, dass Israel seine bereits angekündigte militärische Offensive noch nicht gestartet hat: Um den Menschen im Norden des Gazastreifens noch die Möglichkeit zu geben, in den Süden zu flüchten, so die Begründung.

In einem Moment, in dem noch Sirenen heulen und Scholz sich vor möglichem Raketenbeschuss seitens der Hamas noch in Sicherheit bringen muss - kurz vor dem Abflug nach Ägypten. An einem Abend, an dem ein Krankenhaus im Gazastreifen von einem Raketeneinschlag getroffen wird - und unklar bleibt, von wem. Für jene in den arabischen Ländern, die Israel gern von der Landkarte streichen würden, ist der Verursacher schnell ausgemacht - von Hamas-Propaganda befeuert.

Solidarität und Dilemma

In einem solchen Moment, in dem sich die Ereignisse überstürzen, muss der Kanzler als Chef-Außenpolitiker Deutschlands mehr noch als sonst jedes Wort wägen. Er versucht in diesen Tagen stets - wie auch bei seiner Regierungserklärung dazu vergangene Woche im Bundestag - eine Doppelbotschaft auszusenden: Einerseits die klare Solidarität mit Israel als deutsche Staatsräson zu bekunden und sich im Rahmen des Völkerrechts zu wehren, andererseits Möglichkeiten zu schaffen für humanitäre Hilfe der notleidenden Zivilbevölkerung in den palästinensischen Gebieten, in denen sich die Hamas aufhält - dazu bereit, diese Menschen als Schutzschild für ihre Munitionslager zu nutzen.

Ein Dilemma, das Scholz offen beschreibt - denn dafür braucht es auch seitens Israels eine Waffenruhe, damit Transporter mit Hilfsgütern von Ägypten aus nach Gaza sicher hinein und auch wieder hinauskommen.

Sorge vor einem Doppelkonflikt

Was kann, was will der deutsche Bundeskanzler als Einzelner hier erreichen? Es geht um öffentliche Krisendiplomatie, aber gleichzeitig auch um hinter den Kulissen sicher geführte unzählige Gespräche mit verschiedenen Seiten, damit der Konflikt nicht eskaliert. Hin zu einem "Flächenbrand", wie Scholz sagt: einer, der die ganze Region erfassen könnte.

In der Kanzlerpartei SPD gibt es durchaus die Sorge, dass Israel in einem größeren Doppelkonflikt, an dem dann auch noch weitere arabische Länder wie der Iran und die terroristische Vereinigung Hisbollah vom Libanon aus beteiligt wären, den Kürzeren ziehen würde.

Während US-Präsident Joe Biden als Gesprächspartner nahezu von Israels Nachbar Jordanien ausgeladen wurde, hat Scholz den jordanischen König zum Gespräch empfangen. Jordanien und Ägypten stecken selbst in einem Dilemma: Sie wollen humanitäre Hilfe leisten, jedoch keine weiteren palästinensischen Flüchtlinge aufnehmen. Womöglich könnte Scholz hier etwas bewirken, in enger Abstimmung mit Biden, der nach ihm in Tel Aviv eintrifft.

Scholz als Schlüsselfigur

Scholz steht hier in der Kanzler-Tradition seiner Vorgänger Angela Merkel und Gerhard Schröder, die beide keinen Zweifel an der Staatsräson ließen. Und Deutschland verfügt über gefestigte Gesprächsverbindungen zu arabischen Ländern, die Scholz nun zu einer Schlüsselfigur machen.

Deutschland müsse mit unbequemen und schwierigen Partnern kooperieren, weil diese Gesprächszugänge hätten, die im deutschen Interesse lägen, sagt der Sicherheitspolitik-Experte Markus Kaim im Gespräch mit dem ARD-Hauptstadtstudio.

"Iran hat Stellvertreter aufgebaut", Markus Kaim, Stiftung Wissenschaft und Politik, zur geopolitischen Lage in Nahost

tagesschau24, 15.10.2023 08:00 Uhr

Kaim zieht bereits eine weiterführende politische Lehre aus den vergangenen Tagen, die zum Auftrag für die Regierung Scholz wird: Die deutsche und europäische Politik haben den israelisch-palästinensischen Kernkonflikt in den vergangenen Jahren vernachlässigt. Man habe eine scheinbare Ruhe im Nahen Osten festgestellt und sich nicht mehr sonderlich bemüht: "Das ist, wie wir jetzt wissen, eine Fehleinschätzung gewesen." Jetzt gebe es die Wiederentdeckung: Deutschland und Europa würden als Vermittler in dieser Region gebraucht.

Für Scholz und seine Außenministerin Annalena Baerbock heißt das: Die Region braucht mehr diplomatisches Engagement. Ihre Reisen dorthin nach dem Hamas-Angriff auf Israel können nur ein Auftakt sein. Man wird das fast vergessene Wort "Pendeldiplomatie" wieder öfter hören in Zukunft.

In einer früheren Version hieß es, Bundeskanzler Scholz sei "der erste westliche Regierungschef" in Israel gewesen. Wir haben die Passage präzisiert, da der rumänische Ministerpräsident Marcel Ciolacu bereits kurz zuvor in Israel war.

Mehr zum Hintergrund dieser und anderer Korrekturen finden Sie hier: tagesschau.de/korrekturen