Aufräumarbeiten nach einem israelischen Angriff in Beirut.
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Naher Osten An der Schwelle zum regionalen Krieg

Stand: 02.10.2024 10:53 Uhr

Der Nahe Osten steht an der Schwelle zu einem regionalen Krieg. Nach dem iranischen Angriff auf Israel hängt jetzt viel von der Reaktion Israels ab. Dabei ist das Land längst in einem Mehrfrontenkampf.

Die Ausgangslage

In wenigen Tagen jährt sich der terroristische Überfall der Hamas auf Israel zum ersten Mal. Und heute steht die ganze Region an der Schwelle zum umfassenden Krieg. Israel bekämpft die Hamas im Gazastreifen mit aller Härte, geht mit Luftangriffen und begrenzten Bodentruppen gegen Hisbollah-Stellungen und ihre Anführer im Libanon vor, erwidert Angriffe der Huthi-Miliz im Jemen. Die Regionalmacht Iran griff zum zweiten Mal Israel mit Raketen an - diesmal jedoch noch weitaus massiver als im April.

Karte mit Israel, Libanon, Jordanien, Saudi-Arabien, Jemen, Syrien, Irak und Iran

Wie reagiert Israel nach dem Angriff des Iran?

Nach dem iranischen Raketenangriff auf sein Land hat Israels Regierungschef Benjamin Netanyahu Vergeltung angekündigt. "Der Iran hat einen großen Fehler gemacht - und er wird dafür bezahlen", sagte Netanyahu nach Angaben seines Büros.

Wann ein Vergeltungsschlag auf den Iran erfolgen könnte, blieb offen. Unklar ist auch, wie massiv Israel reagieren wird. Die New York Times berichtete unter Berufung auf US-Beamte, in einem möglichen Szenario könnte Israel die iranischen Nuklearanlagen angreifen. Insbesondere die Anreicherungsanlagen in Natanz, dem Herzstück des iranischen Programms, könnten im Visier stehen. 

Hanna Resch, ARD Tel Aviv, Katharina Willinger, ARD Istanbul, zzt. Teheran, zu der aktuellen Lage im Nahen Osten

tagesschau, 02.10.2024 12:00 Uhr

Und was macht der Iran?

Der Iran drohte Israel, falls es einen Vergeltungsschlag starte. "In diesem Fall wird unsere Antwort stärker und kräftiger ausfallen", schrieb der iranische Außenminister Abbas Araghchi auf der Plattform X. "Unsere Aktion ist abgeschlossen, es sei denn, das israelische Regime beschließt, zu weiteren Vergeltungsmaßnahmen aufzurufen." Die iranischen Revolutionsgarden erklärten, die Attacke sei eine Vergeltung für die Tötung von Hamas-Auslandschef Ismail Hanija, Hisbollah-Generalsekretär Hassan Nasrallah sowie eines iranischen Generals, hieß es im Staatsfernsehen. Im Iran feierten Tausende Menschen den Raketenangriff auf Israel. 

Man rechnet aber offenbar mit einem israelischen Angriff. Der Flugverkehr ist bis Donnerstagfrüh um 5 Uhr Ortszeit ausgesetzt. Sämtliche Flüge seien bis dahin gestrichen worden, meldet die halbamtliche Nachrichtenagentur Tasnim unter Berufung auf die Zivilluftfahrtbehörde des Landes.

Droht ein regionaler Krieg?

Nach Einschätzung von Experten ist die Lage im Nahen Osten so brenzlig wie seit Jahren nicht. Die Region steht an der Schwelle zu einem umfassenden Krieg. Es droht der Flächenbrand, vor dem immer wieder die Rede war. Wenn Israel nun direkt auf iranischem Territorium zurückschlägt, könnte dies einen regionalen Krieg auslösen.

Wie reagiert die Weltgemeinschaft?

Extrem alarmiert. US-Sicherheitsberater Jake Sullivan sprach mit Blick auf den iranischen Angriff von einer "bedeutenden Eskalation". Das US-Verteidigungsministerium warnte den Iran vor weiteren Angriffen auf Israel. Präsident Joe Biden hatte die US-Streitkräfte in der Region angewiesen, Israels Verteidigung zu unterstützen und iranische Raketen abzuschießen.

Solidaritätsbekundungen für Israel kamen auch aus Frankreich, Großbritannien, Japan und sogar Australien. Aus Deutschland meldete sich nach Außenministerin Annalena Baerbock auch Bundeskanzler Olaf Scholz zu Wort: "Iran riskiert damit, die ganze Region in Brand zu setzen - das gilt es unter allen Umständen zu verhindern", sagte der SPD-Politiker.

Zudem dürfte viel telefoniert werden. So hat Irans Außenminister Abbas Araghchi unmittelbar nach dem Raketenangriff seines Landes auf Israel mit europäischen Kollegen gesprochen. Telefonate führte er unter anderem mit Bundesaußenministerin Baerbock und Kollegen in Großbritannien, Frankreich sowie weiteren Ländern, wie die iranische Nachrichtenagentur Irna berichtete. Auch der Iran dürfte kein Interesse an einem Krieg mit Israel haben.

Angesichts der eskalierenden Lage in Nahost soll der UN-Sicherheitsrat heute (16:00 Uhr MESZ) zu einer Dringlichkeitssitzung zusammenkommen. 

Wie ist die Situation zwischen Israel und der Hisbollah im Libanon?

Auch hier gehen die gegenseitigen Angriffe unvermindert weiter. Das israelische Militär stockte seine Bodeneinheiten im Libanon auf. Zum Einsatz kommen nun Infanterie- und Panzertruppen der 36. Division, zu der die Golani-Brigade, die 188. Panzerbrigade und die 6. Infanteriebrigade gehören, wie die Armee mitteilte. Deren Aktivitäten würden jedoch begrenzt und lokal bleiben. Zuvor hatte Israel erklärt, Kommando- und Fallschirmjägereinheiten seien im Rahmen der Bodenoffensive im Libanon eine kurze Distanz über die Grenze vorgedrungen.

Die Hisbollah meldete Kämpfe mit israelischen Soldaten auf beiden Seiten der Grenze. Zum einen seien Kämpfer der pro-iranischen Miliz einer "feindlichen israelischen Infanterieeinheit" gegenübergestanden, die versucht habe, in das libanesische Dorf Adajseh einzudringen, erklärte die Terrororganisation. Zudem hätten Hisbollah-Kämpfer eine "große Infanterieeinheit" im israelischen Misgav Am "mit Raketen und Artillerie" angegriffen, so die Miliz weiter. Auch schoss sie eigenen Angaben zufolge wieder Raketen Richtung Haifa in Nordisrael ab.

Die israelische Armee hatte am frühen Morgen erklärt, erneut Hisbollah-Ziele angegriffen zu haben. Aus libanesischen Sicherheitskreisen verlautete, dass die israelische Armee zwei Angriffe im Süden der Hauptstadt Beirut ausgeführt habe. Kurz zuvor hatte die israelische Armee die betroffene Bevölkerung nachts aufgerufen, "sofort" zu ihrer eigenen Sicherheit zwei Gebäude in einem südlichen Vorort von Beirut zu verlassen und die gesamte Umgebung im Umkreis von 500 Metern zu meiden. Die südlichen Vororte von Beirut sind eine Hochburg der pro-iranischen Hisbollah-Miliz.

Die Lage für die Zivilbevölkerung im Libanon ist katastrophal. Etwa eine Million Menschen soll auf der Flucht sein, innerhalb des Landes oder Richtung Syrien.

Wie verhalten sich die Huthi im Jemen?

Israel befindet sich längst in einem Mehrfrontenkampf. Zur "Achse des Widerstands" des Iran gehört auch die Huthi-Miliz im Jemen. Sie gab an, Ziele im Inneren von Israel angegriffen zu haben. Bei dem Einsatz der "Raketentruppen der jemenitischen Streitkräfte" seien "Armeeeinrichtungen tief im Inneren" Israels getroffen worden, erklärten die Huthi. Dabei setzten die Rebellen laut eigenen Angaben drei Quds-5-Marschflugkörper ein. "Der Feind" halte die Ergebnisse des Einsatzes geheim. Israel machte bisher keine Angaben zu eventuellen Huthi-Angriffen. Auch Israel griff zuletzt Stellungen der Huthi im Jemen mit Kampfflugzeugen an.

Wie ist die Lage im Gazastreifen?

Knapp ein Jahr nach Beginn des Gaza-Kriegs scheint sich der Schwerpunkt der Kämpfe in Richtung des nördlichen Nachbarlandes zu verlagern. Den Kampf gegen die Terrororganisation Hamas in dem Küstenstreifen setzt Israel aber fort. Nach Angaben von Krankenhausvertretern sind bei israelischen Angriffen mindestens 32 Menschen getötet worden. Das Europäische Krankenhaus in Chan Junis erklärte, die Leichen seien dort nach schweren israelischen Luftangriffen und Bodenoperationen in der Stadt über Nacht und am Mittwoch eingeliefert worden. Das von der militant-islamistischen Hamas kontrollierte Gesundheitsministerium bezifferte die Zahl der Toten in der Stadt Chan Junis mit 51.

Julio Segador, J. Segador, ARD Tel Aviv, tagesschau, 02.10.2024 11:20 Uhr