Sechs Monate nach Hamas-Angriff "Man fragt sich: Wofür kämpfen wir?"
Der Terrorangriff der Hamas sei auch ein halbes Jahr später eine "endlose Gegenwart", sagt der Autor Ofer Waldman. Hinzu kämen die Angst um die Geiseln, Kriegsgräuel - und das Versagen der Regierung. Das drohe Israel in den Abgrund zu reißen.
tagesschau.de: Als wir vor einem halben Jahr über den Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober sprachen, bezeichneten Sie ihn als einen "Zivilisationsbruch", als einen "Zusammenbruch" Ihrer Welt. Wie blicken Sie heute auf diesen Tag und seine Folgen?
Ofer Waldman: Das gilt nach wie vor. Ich habe auch damals schon den Begriff "neue Zeitrechnung" verwendet. Man redet oft bei solchen Ereignissen von einem "Davor" und einem "Danach". An das "Davor" erinnert man sich nur diffus, und ein "Danach" gibt es noch nicht. Es gibt ein Zitat von Natan Sznaider, der sagt: "Wir gehen am 7. Oktober ins Bett und wachen am 7. Oktober auf."
Da ist diese endlose Gegenwart des 7. Oktober, verkörpert vor allem durch die israelischen Geiseln. Und dazu gesellt sich der Schrecken des Krieges, der nun seit unvorstellbaren sechs Monaten andauert, mit Tod, mit Hunger. Das alles ist Teil des Zivilisationsbruchs, der über alle Menschen in dieser Region gekommen ist.
Das Schicksal der Geiseln ist allgegenwärtig
tagesschau.de: Was prägt für Sie diese "endlose Gegenwart"?
Waldman: Es ist das Schicksal der Geiseln, ihre Bilder hängen überall. Der Protest ihrer Familien wird immer verzweifelter. Es drängen auch neue Details ans Licht über die Entführung und das, was mit den Geiseln nach der Entführung passiert ist. Ich meine damit die sexualisierten Gewalttaten gegen die Geiseln, zu denen es nicht nur am 7. Oktober, sondern auch danach gekommen ist. Dieser Gedanke ist immer präsent.
Dazu kommt, dass Israel täglich aus dem Libanon beschossen wird. Kampfflieger donnern nach wie vor Tag und Nacht entlang des Himmels. Dazu gehört das ständige Warten auf den Flugalarm - kommt er, kommt er nicht? Hätte ich 40 Kilometer nördlich von meinem Wohnort Haifa gelebt, würde ich Ihnen jetzt von meinem Leben als Evakuierter erzählen. Es sind mehr als 100.000 Menschen zu Binnenflüchtlingen in Israel geworden. Auch das gehört zum Krieg.
Und allmählich entfaltet sich das unermessliche Grauen in Gaza. Die Bilder davon gehören ebenfalls zu der Grausamkeit dieser Tage - gekoppelt mit dem offensichtlichen Versagen der Politik, uns aus dieser Situation herauszuführen.
"Wir stehen langsam wieder auf, auf zittrigen Beinen"
tagesschau.de: Vor einem halben Jahr haben Sie davon berichtet, wie es unmöglich und doch unumgänglich ist, mit Ihren Kindern über diesen Zusammenbruch ihrer Welt zu sprechen. Wie gehen Sie und Ihre Kinder inzwischen damit um?
Waldman: Ich sehe jetzt, wie nach sechs Monaten vor allem bei meiner älteren Tochter die Einzelheiten des 7. Oktober und der Zeit danach in ihre Gedanken und Träume eindringen. Es ist ja ohnehin eine Generation, die durch die Corona-Pandemie und das politische Chaos in Israel fast nur den Ausnahmezustand kennt. Da gilt es, das offene Gespräch zu suchen, ihre Ängste anzusprechen und sie aussprechen zu lassen, auch beim Thema sexualisierte Gewalt. Und dann zu sagen: Wir stehen langsam wieder auf, auf zittrigen Beinen.
Denn das gehört ebenfalls zur Dramaturgie des Aufstehens: Ich habe meine Tochter in den vergangenen Wochen zu jüdisch-arabischen Demonstrationen und Mahnwachen mitgenommen, um ihr zu zeigen, dass es an uns liegt, etwas zu unternehmen, wenn es darum geht, ob die Welt unser Vertrauen verdient hat oder nicht.
Ich sage ihr: "Such Dir ein Plakat aus, mit dem Du Dich identifizieren kannst, halte es in die Höhe. Und wenn Du das gemeinsam mit jüdischen und palästinensischen Israelis machst, dann zeigst Du, dass Du nicht ohnmächtig bist. Und Du arbeitest aktiv daran, dass diese verdammte Welt Dein Vertrauen wieder verdient."
"Befreiung der Geiseln wird zum Politikum"
tagesschau.de: Haben Sie den Eindruck, dass die Regierung genug tut, um weitere oder alle Geiseln freizubekommen?
Waldman: Diese Frage stellen viele, nicht nur die Angehörigen der Geiseln - sie fragen, ob die Befreiung der Geiseln das wichtigste Kriegsziel für diese Regierung ist oder nicht. Es ist schrecklich, denn damit wird das Ganze zum Politikum. Dass die Befreiung der Geiseln als oberste Priorität nicht zum politischen Konsens in Israel gehört, erschüttert ihre Familien und große Teile der israelischen Gesellschaft, und auch mich.
Das gilt auch für das internationale Gespräch darüber: Es sind Babys, Greise, misshandelte Frauen unter den Geiseln: Ist es überhaupt wichtig, dass sie Israelis sind? Soll die Forderung nach ihrer Freilassung nicht unabhängig von ihrer Nationalität zum internationalen Konsens gehören?
Es ist eine Zerreißprobe und ein Trauma. Die Geiseln, der Krieg, die Gefahr der Kriegsausweitung: Die israelische Gesellschaft hat in der Vergangenheit gezeigt, wie viel Kraft sie hat. Wie diese Kraftprobe ebenfalls bestanden wird, bleibt aber offen. Zugleich muss man sagen: Es war die Hamas, die den Krieg ausgelöst hat. Es ist die Hamas, die die Geiseln festhält, es ist die Hamas, die an einem Flächenbrand in der Region interessiert ist.
"Die alten Risse gehen wieder auf"
tagesschau.de: Premierminister Benjamin Netanyahu betont, während er an seinem Kurs festhält, immer wieder den Zusammenhalt Israels. Können Sie den noch erkennen?
Waldman: In den ersten Wochen nach dem Terrorangriff der Hamas haben wir noch einen starken Zusammenhalt erlebt. Jetzt, sechs Monate später, gehen die alten Risse wieder auf, die die israelische Gesellschaft im vergangenen Jahr erschüttert haben. Nun sind diese Risse sozusagen mit dem Feuer, mit dem Leid und mit dem Blut des Krieges übergossen und werden dadurch schmerzhafter.
Man fragt sich: Wofür kämpfen wir? Kämpft Israel einen Verteidigungskrieg? Kämpft Israel, um die Geiseln zu befreien? Kämpft Israel, damit sich der 7. Oktober nie, nie wiederholen kann? Oder kämpft Israel, wie Teile der gegenwärtigen Regierung suggerieren, darum, bestimmte messianische Ziele zu verwirklichen - nämlich die Besiedlung des Gazastreifens, die Veränderung der geopolitischen Realität in Israel und Palästina?
Deshalb sind wir jetzt als Gesellschaft in einer Phase, in der viele wieder auf die Straße gehen, weil wir sehen, dass der Krieg zu einem eigenständigen Wesen wurde, das offenbar mächtiger ist als jeder politische Akteur in Israel. Auf beiden Seiten sehen wir Akteure - womit ich keine sinnlosen Vergleiche ziehen möchte -, die im Schatten des Krieges ihre messianischen Wahnvorstellungen wahrwerden lassen wollen. Wir sehen, dass dieser Krieg droht, Israel, das wegen seiner Regierung schon vor dem 7. Oktober am Abgrund stand, endgültig in den Abgrund zu stürzen.
Es gab zuletzt drei Tage hintereinander Massendemos in Jerusalem gegen die Regierung, für die Freilassung der Geiseln, für Neuwahlen. Es sind aber keine Demonstrationen, auf denen man schreit, es sind Demonstration, auf denen man weint mit den Angehörigen der Geiseln. Was sie dort sagen, ist herzzerreißend. Und diese Entladung der Frust und der Wut läutet jetzt eine neue Phase nach Ausbruch des Krieges ein, in der sich die israelische Gesellschaft gerade befindet.
"Wir reden von Hunger"
tagesschau.de: Die israelische Regierung wird wegen der Kriegsführung im Gazastreifen international massiv kritisiert, auch vom engsten Verbündeten, den USA. Haben Sie dafür Verständnis?
Waldman: Diese Kritik lässt die Frage nachhallen, wofür wir kämpfen. Wir haben eine Regierung, die unfähig ist, klare Kriegsziele zu formulieren, die sich weigert, über den Tag danach zu reden. Wir sprechen über mehr als 30.000 Opfer in Gaza, die Mehrheit davon Zivilistinnen und Zivilisten. Wir sehen unermessliches Leid und absolute Verwüstung. Wir reden von Hunger. 140 Kilometer von meinem Haus entfernt hungern Kinder! Diesen Satz auszusprechen, übersteigt jedes Vorstellungsvermögen.
Leider sieht man in Israel kaum Bilder aus Gaza. Sie müssen spezifische Medien konsumieren, um zu wissen, was gerade in Gaza passiert. Auf der palästinensischen oder arabischen Seite, wo man hauptsächlich Al Jazeera und ähnliche Kanäle sieht, stellt man den 7. Oktober wiederum in Frage, ob das überhaupt so stattgefunden hat.
Und so haben wir zwei Gruppen von Menschen, die das jeweils andere Leid überhaupt nicht anerkennen, überhaupt nicht wahrnehmen. Deswegen empfinden viele Israelis die internationale Kritik als verlogen. Jetzt hat der Tod der sieben internationalen Helferinnen und Helfer ein bisschen daran gerüttelt und den Israelis zu verstehen gegeben, wie billig Menschenleben im Gazastreifen gerade sind.
"Realitäten, die wir für vergangen hielten"
tagesschau.de: Gehört zu diesem Unverständnis auch, dass in der internationalen Debatte über Solidarität und ihre Grenzen auch in Deutschland Formen von Antisemitismus aufgetreten sind, die man überwunden glaubte?
Waldman: Das neue Buch von Sasha Marianna Salzmann und mir heißt "Gleichzeit", und darunter ist auch zu verstehen, dass jüdische Menschen weltweit, ob in Israel oder anderswo, sich auf einmal mit Bildern und mit Realitäten konfrontiert sahen, die wir eigentlich für vergangen hielten. Dazu gehört auch diese Welle des Antisemitismus, die wir weltweit nach dem 7. Oktober gesehen haben.
Ich habe mich immer als Teil eines humanistischen Lagers gesehen und musste nun sehen, dass viele Akteure dieses Lagers israelischen Opfern ihre Menschenrechte und ihr Leid absprachen. Viele internationale Organisationen, die immer die universell geltenden Menschenrechte hochhalten, haben lange gebraucht, um über die sexualisierten Gewaltverbrechen zu sprechen, weil die Opfer dieser Verbrechen jüdische Frauen waren.
Die Aberkennung von Menschenrechten, ja von Menschlichkeit, aufgrund der kollektiven Zugehörigkeit der Opfer, ja die Unfähigkeit, den Menschen jenseits der kollektiven Zugehörigkeit zu sehen: Das ist eine schreckliche Realität dieses Krieges. Sie kommt keineswegs nur bei Israelis oder Palästinensern vor, sondern auch bei vielen Beobachterinnen und Beobachtern des Krieges.
Gleichzeitig haben wir in Deutschland und nicht nur in Deutschland eine enorme Welle der Solidarität gesehen, die für viele Israelis, auch für mich, sehr wichtig war. Das ist zentral, wenn ihre Welt in Trümmern liegt, wenn sie durch Gewalterfahrung aus der Welt hinausgeworfen werden.
Schreiben - und das Leid der anderen sehen
tagesschau.de: Kann es dennoch gelingen, unter diesen Umständen Mut und Zuversicht zu bewahren oder wieder zu erringen?
Waldman: Für mich ermöglicht das Schreiben, die Welt und mich darin wieder wahrzunehmen, vor allem durch Freundschaft, durch mein Gegenüber in dem Buch, Sasha Marianna Salzmann. Es hat mir gezeigt: Ich bin nicht ohnmächtig, ich kann etwas bewirken, an einer gemeinsamen Erzählung unserer Welt arbeiten.
Aber wenn ich verlange, dass mein Leid, meine Wut und Trauer gesehen werden, gehört es dazu, dass ich auch Wut und Trauer und Leid der vermeintlich anderen Seite wahrnehme. Und das verlange ich ebenso umgekehrt von meinen palästinensischen Freundinnen und Freunden, wie auch von allen, die sich zum Krieg äußern.
Von mir wird zurecht gefordert, dass ich das Leid in Gaza sehe. Das fordere ich von mir selber. Wenn ich es nicht schaffe, das Leid in Gaza zu sehen, habe ich keinen Anspruch darauf, auf einer gemeinsamen Welt zu bestehen, wie auch darauf zu bestehen, als Teil von ihr wahrgenommen zu werden.
Erst wenn wir wieder diese gemeinsame Erzählung unserer Welt erreichen, können wir uns vielleicht den Anfang einer Heilung aus dieser Menschheitskatastrophe vorstellen.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de