Dschenin im Westjordanland Der palästinensische Bruderkampf
In Dschenin im Westjordanland gibt es seit Wochen heftige Auseinandersetzungen. Die Autonomiebehörde betont, sie wolle Recht und Ordnung wiederherstellen. Die militanten Gruppen werfen ihr vor, die israelische Besatzung zu unterstützen.
Salven von automatischen Waffen: Auch während des Gespräches mit Nahida Sabbagh, nur 200 Meter vom Flüchtlingslager in Dschenin im Westjordanland entfernt, hört man die Gefechte. Nahida Sabbagh fühlt sich zurückversetzt an den letzten Samstag im Dezember: "Sie begannen zu schießen. Und wir schrien: Hört auf! Hört auf zu schießen! Shata hatte den kleinen Jungen an der Hand. Ich sah sie am Boden, sie blutete. Ich packte sie am Ärmel, zog sie an der Hand heran. Unter ihr war eine große Blutlache."
Nahida Sabbagh schildert die letzten Momente mit ihrer Tochter Shata. Die Journalistikstudentin wurde mitten im Flüchtlingslager in Dschenin auf dem Rückweg vom Supermarkt erschossen.
War es eine gezielte Tötung? Oder war sie zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort? Der Fall ist bis heute nicht aufgeklärt.
Flüchtlingslager ist lebensgefährlich
Fest steht: Das Flüchtlingslager in Dschenin ist inzwischen auch für die Bewohner dort lebensgefährlich. Bewaffnete Kämpfer von Hamas und Islamischer Dschihad liefern sich nahezu jeden Tag heftige Feuergefechte mit den Sicherheitskräften der Palästinensischen Autonomiebehörde.
Adnan Alsabah ist ein palästinensischer Schriftsteller und politischer Analyst aus Dschenin. Er sieht einen grundsätzlichen Konflikt innerhalb der Palästinenser. "Beide Seiten haben unterschiedliche Standpunkte", erklärt er. Die eine Seite - die Autonomiebehörde - sagt, sie wolle Verhandlungen. "Sie geht den Weg der Diplomatie. Das ist der politische Weg, der zu einer Lösung führen soll", so Alsabah.
Die Fraktionen des Widerstandes sagen dagegen, sie seien diesen Weg 30 Jahre lang gegangen und hätten keine Ergebnisse erzielt. "Im Gegenteil. Es wird immer schlimmer. Im Westjordanland hatten wir einst 100.000 Siedler, jetzt sind es bald eine Million. Und die USA haben Jerusalem zur Hauptstadt des Besatzungsstaates erklärt."
"Gesetzlosen haben Flüchtlingslager gekidnappt"
Der Konflikt eskaliert inzwischen. Auf beiden Seiten gab es bei diesem palästinensischen Bruderkampf Tote. Anwar Rajab ist hoher Offizier der palästinensischen Sicherheitskräfte, die von der Autonomiebehörde eingesetzt wurden. Er lässt keinen Zweifel daran, wer im Hintergrund versucht, das palästinensische Lager zu spalten.
"Für uns ist die Sache klar", sagt Rajab. "Der Islamische Dschihad ist Teil der Achse Iran. Diese Gesetzlosen haben das Feuer auf die Sicherheitsinstitutionen eröffnet und aus dem Flüchtlingslager einen Brutkasten für Gesetzlose und Kriminelle gemacht."
Das seien Gruppen, die mit der Hamas und dem Islamischen Dschihad verbunden sind. "Diese Gesetzlosen mit ihrer Verbindung zum Iran haben das Flüchtlingslager Dschenin sozusagen gekidnappt."
Autonomiebehörde: Zivilverwaltung in Gaza?
Doch weshalb brechen diese innerpalästinensischen Kämpfe gerade jetzt mit dieser Heftigkeit aus? Analyst Adnan Alsabah sieht vor allem einen Grund: "Die Autonomiebehörde und mit ihr Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas wollen sich Gaza zurückholen. Es soll international wieder Teil des von der Fatah kontrollierten palästinensischen Staates sein. Ohne die Hamas."
Die Autonomiebehörde rechne mit einem aggressiven Vorgehen, wenn Donald Trump wieder als US-Präsident im Weißen Haus ist. Deshalb wolle sie sich schon jetzt kooperationsbereit zeigen und klar machen, dass sie die Dinge im Griff habe und für Ruhe sorgen könne, so Alsabah.
Die Autonomiebehörde will sich für höhere Aufgaben empfehlen, auch für eine mögliche Zivilverwaltung in Gaza nach dem Krieg. Offizier Anwar Rajab macht daraus keinen Hehl: "Wir Sicherheitskräfte folgen der politischen Entscheidung. Aber wir sind bereit, im Gazastreifen für unser eigenes Volk zu arbeiten und alle Dienste und Schutz bereitzustellen."
Viele Palästinenser verurteilen Abbas
Dass Palästinenserpräsident Abbas diesen Kurs mit aller Härte durchzieht, nehmen ihm viele Palästinenser übel. Auch Sabbagh, deren Tochter im Flüchtlingslager bei dem Bruderkampf getötet wurde.
Was würde sie Abbas sagen, wenn er zu ihr nach Hause kommen würde? Die trauernde Frau muss nicht lange überlegen. "Ich würde ihn nicht willkommen heißen", antwortet sie. "Er hat meine Tochter getötet. Und er behandelt die palästinensische Nation nicht wie ein Präsident sein eigenes Volk. Er umarmt uns nicht." Vielmehr hetze Abbas seine eigenen Söhne und Töchter auf, so Sabbagh.