Sechs Monate nach dem Erdbeben Die Suche nach Syriens verschwundenen Kindern
Auch noch sechs Monate nach dem Erdbeben hoffen die Menschen in Syrien, ihre Liebsten wiederzusehen - unter ihnen ein Großvater, der verzweifelt seine Enkelkinder sucht.
Auf dem Handy sind sie immer noch da. Großvater Fadel el Jaber zeigt die Bilder seiner Liebsten. Der Bauer sitzt vor seinem kleinen Haus in einem Dorf im Süden der syrischen Provinz Idlib und schaut sich Fotos auf seinem Telefon an. Darauf sieht er seinen Sohn, ein angesehener Doktor, seine Schwiegertochter und seine Enkelkinder.
Ein schlaksiger Junge lacht in die Kamera, die kleine Schwester halb auf den Schultern, ein Schulmädchen mit weißer Schleife in den langen Haaren und gelben Rock. Fünf Enkel waren es - der kleinste war zwei, der größte schon 14 Jahre alt. Doch keiner von ihnen ist noch da.
Erdbeben ließ Haus einstürzen
Der alte Mann erinnert sich an den Tag des Erdbebens. Seine Tochter habe ihn angerufen und gesagt, dass das Haus in der Stadt Salkin eingestürzt sei, in dem der Sohn mit seiner Familie auf der ersten Etage gewohnt habe. "Wir fuhren hin. Zwei, zweieinhalb Stunden später waren wir da und fanden das fünfstöckige Gebäude komplett zusammengebrochen."
Mehrere Tage verbrachte der Großvater dort und suchte in den Trümmern. "Am dritten Tag, als die Sonne gerade aufging, haben wir seine Leiche gefunden und ihn begraben", erzählt Jaber. "Am Nachmittag fanden wir dann seine Frau und die vierjährige Tochter und den kleinen zweijährigen Sohn. Er hieß Mahdy."
Schwiegertochter und jüngste Enkel tot aufgefunden
Für die kleinen Enkel und die Schwiegertochter kam jede Hilfe zu spät. Sie konnten nur noch tot geborgen werden. Aber wo waren die anderen? Die drei älteren Enkel - Mohammed, Sham und Sahar? Jaber suchte weiter in den Trümmern.
"In ihren Räumen haben wir die Betten gesehen und die Decken, aber wir fanden keine Kinder. Dann haben die Bulldozer alles weggeräumt." Auch die Nachbarn seien gestorben. Jede Familie in jeder Etage hatte Opfer zu beklagen, sagt er. Nur die drei Kinder seines Sohnes konnten nicht gefunden worden.
Großvater sucht weiter nach älteren Enkeln
Jaber suchte weiter. Er ging zum Krankenhaus, erkundigte sich, doch niemand hatte die Kinder gesehen. "Wir haben auch bei den Helfern der Weißhelme nachgefragt, aber sie sagten uns, sie hätten alle Fälle dokumentiert, es gäbe keine unbekannten Leichen hier. Wir sind in alle Krankenhäuser gegangen, aber ohne Erfolg", sagt Jaber.
Also leben die Kinder vielleicht noch? Aber wo sind sie? Jaber lässt nicht locker. In seinem Ort gibt es ein kleines Büro, das sich um Suchanzeigen kümmert. Menschen, die nach dem Beben unauffindbar waren - verschüttet, verloren, vermisst. Ein Mitarbeiter erzählt, man habe in der Gegend Hunderte von Vermisstenfällen dokumentiert. Es habe aber viele Leichen gegeben, die wir nicht identifiziert werden konnten.
Lage im Nordwesten weiterhin katastrophal
Auch sechs Monate nach dem Erdbeben gilt die Lage im Nordwesten Syriens immer noch als katastrophal: Viele Menschen leben in Zeltlagern, es mangelt an sauberem Trinkwasser und medizinischer Versorgung. In der Hitze breiten sich Krankheiten aus.
Jabers Haus ist stehen geblieben. Der Sommer ist da. Im kleinen Garten wächst alles und die Granatäpfel werden langsam reif. Aber wie soll er noch Glück empfinden? Behutsam nimmt der alte Mann die Früchte in die Hand. Ein halbes Jahr ist nun vergangen, aber seine drei Enkel hat er noch immer nicht gefunden.
Unser Leben ist ohne Freude, es schmerzt so sehr. Wir wollen wissen, was mit ihnen passiert ist, ob sie leben. Vielleicht wohnen sie ja bei einer netten Familie, die sich gut um sie kümmert. Ich glaube nicht, dass sie tot sind. Sie leben bestimmt und es geht ihnen gut - und ich hoffe, dass Gott uns wieder zusammenbringt.
Jaber: "Ich hoffe so sehr, sie bald wiederzusehen"
Jaber geht die steinige Anhöhe hinauf. Auf einem Hügel befindet der Friedhof. Die meisten Gräber sind frisch. Dort liegen sein Sohn, seine Schwiegertochter, die beiden kleinen Enkel.
Jeden Freitag geht er mit seiner Frau auf den Friedhof, um seinen Sohn zu besuchen, seine Frau und die Kindergräber. "Wir bleiben hier für eine Weile - und dann erzähle ich meinem Sohn, dass ich seine drei Kinder noch nicht gefunden habe. Aber ich hoffe so sehr, sie bald wiederzusehen."