Die Türkei vor der Wahl Erdogan muss um die Macht kämpfen
In einem Monat wählt die Türkei ein neues Parlament und ein neues Staatsoberhaupt. Anders als bei vorherigen Wahlen muss die Regierung um die Wiederwahl kämpfen. Verliert Präsident Erdogan nach 21 Jahren die Macht?
In der kleinen Bäckerei im Istanbuler liberalen Stadtteil Cihangir geht es an diesem Morgen nicht nur um Backwaren. Bei Tee und Sesamkringeln diskutieren die Besucher über Politik.
Vier Wochen sind es noch bis zu den Wahlen, und viele Besucher der Bäckerei klagen darüber, dass sie sich ihre Mieten kaum mehr leisten können und auch nicht die monatlich abgerechneten Nebenkosten.
Auch die Lebensmittelkosten hätten sich verdreifacht, sagt ein Mann. Offiziell beträgt die Inflation in der Türkei 50 Prozent. Inoffiziell soll sie aber laut unabhängigen Wirtschafsforschern der ENAG mehr als doppelt so hoch sein.
Viele Türken, selbst aus der Mittelschicht, geraten derzeit an ihr finanzielles Limit und haben Angst, in die Armut abzurutschen. Die Unzufriedenheit mit der Regierung ist groß.
Große Inszenierung gegen schlechte Stimmung
Wenn die Stimmung schlecht ist, ist das für eine Regierung keine gute Voraussetzung für einen erfolgreichen Wahlkampf. Das Gegenmittel von Präsident Recep Tayyip Erdogan, als er am Dienstag sein Wahlkampfprogramm in Ankara vorstellt: eine große Inszenierung.
Erdogan tritt in einer großen Arena vor einem handverlesenem Publikum auf, das dem Präsidenten huldigt. In einem langem Einspieler werden die Erfolge der letzten Jahre präsentiert. Erdogans AKP will zeigen, dass sie die Türkei in die Moderne geführt, zu einem weltweit angesehenen Staat gemacht hat.
Die Inszenierung bleibt gewohnt groß, doch Erdogan wirkt im Wahlkampf angespannt.
Auf der Suche nach der Souveränität
Erdogan gibt sich siegessicher und kämpferisch, ruft in die Menge. "Wir stoppen nicht, wir machen immer weiter" und fragt seine Anhänger: "Werden wir am 14. Mai die Wahlurnen explodieren lassen?"
Die antworten mit Jubel, doch Erdogan ist die Anspannung deutlich anzumerken. Die Souveränität der vergangenen Jahre ist ihm abhanden gekommen. Man merkt: Er kämpft um die Macht. Und greift zu großen Worten. "Das Jahrhundert der Türkei" heißt sein Wahlprogramm, angelehnt an das diesjährige 100-jährige Staatsjubiläum. 17 Themen auf 486 Seiten.
Es wird viel versprochen: Energiesubventionen, Gehaltserhöhungen und Steuersenkungen sowie die Absenkung der Inflation. Sogar von einem Hochgeschwindigkeitszug von Ankara nach Istanbul ist die Rede.
Wie er das alles schaffen und finanzieren will, sagt Erdogan nicht. Wohl auch, weil er schon in den vergangenen Monaten teure Wahlgeschenke verteilt hat: Das Rentenalter wurde heruntergesetzt, der Mindestlohn angehoben.
Indirekt räumt Erdogan Fehler ein. Das Präsidialsystem, auf ihn zugeschnitten, soll "restauriert" werden, bei der Auswahl der Beamten solle die sehr unbeliebte und ungerechte Befragung durch Parteibeamte abgeschafft werden.
Eine Chance für die Opposition
Dass Erdogan so nervös ist, liegt auch am Herausforderer Kemal Kilicdaroglu. Der 74-Jährige galt lange als Politiker von gestern, der noch nie eine wichtige Wahl gewonnen hat.
Nun hat er aber zur Überraschung vieler und gegen große Widerstände ein Wahlbündnis aus sechs sehr unterschiedlichen Parteien geformt - und die populären Oberbürgermeister von Istanbul und Ankara, Ekrem İmamoğlu und Mansur Yavaş, in sein Wahlteam eingebunden.
Kilicdaroglu setzt auf große Gefühle. "Ich verspreche dir, der Frühling wird wiederkommen", singt eine Mutter ihrer kleinen Tochter im Wahlkampf-Video - ein bekanntes türkisches Lied von früher.
Das greift der Chef der sozialdemokratischen CHP auf: "Wir wollen eine Türkei, deren Freude man in den Augen der Kinder sehen kann. Ich verspreche, der Frühling wird wiederkommen."
Was die Opposition verspricht
"Hoffnung" ist eines der Schlagwörter in seinem Wahlkampf. Außerdem will er den Rechtsstaat stärken, das autoritäre Präsidialsystem abschaffen und die Pressefreiheit stärken.
Für viele Türken trifft er den richtigen Ton. Laut Umfragen könnte Kilicdaroglu Erdogan schlagen, vorausgesetzt die Opposition bleibt geschlossen.
Bei den vergangenen Wahlen sei nur darüber diskutiert worden, mit wie viel Vorsprung Erdogan gewinnt, sagt der Rechtwissenschaftler Vahap Coskun. Nun aber sei es zum ersten Mal seit 2002 so, dass der Sieger noch nicht feststehe.
Wahlallianzen gegen Prozenthürden
Bei der Wahl haben sich Allianzen rund um die großen Parteien gebildet, auch um die Sieben-Prozent-Wahlhürde zu umgehen. Erdogan tritt als "Volksallianz" mit seiner islamisch-konservativen AKP im Wahlbündnis mit der ultranationalistischen MHP, der nationalistisch-religiösen BBP sowie der islamistischen YRP an.
Ein Teil der Opposition hat sich zu einem Bündnis ("Sechser-Tisch") zusammengeschlossen, zu dem unter anderem die größte Oppositionspartei CHP, die rechtsnationale Iyi-Partei und ihrer Schwesterpartei DP, die AKP-Abspaltungen DEVA und GP sowie die islamistische SP gehören.
Entscheidend könnten die Stimmen der kurdischen HDP, bisher drittstärkste Partei, sein. Die HDP tritt wegen eines laufenden Verbotsverfahrens auf der Liste der Grün-Linken (Yesil-Sol Parti), die schon länger mit der HDP zusammenarbeitet, an.
Erdbeben als Wahlkampfthema
Das Jahrhunderterdbeben im Februar spielt im Wahlkampf eine große Rolle. Noch immer leben hunderttausende Opfer in Zelten. Vor allem das schleppende Krisenmanagement in den ersten Tagen nach dem Beben könnte die Regierung Stimmen kosten, auch bei den eigenen Anhängern, die vom Erdbeben betroffen sind.
Eine Frau bringt die Stimmung im ARD-Interview auf den Punkt: Das Beben habe das Land sehr mitgenommen, nun müsse sich etwas ändern, eine neue Regierung müsse her, sagt sie.
Wie bedrohlich diese Stimmung für ihn ist, hat auch Erdogan erkannt und verspricht Hilfe: Dies habe "Priorität". Die Regierung will demnach 650.000 Wohnungen für Überlebende bauen. Viele halten das für Augenwischerei. Ein ehemaliger AKP-Wähler sagt, er habe immer für die Regierung gestimmt, sei jetzt aber nicht mehr zufrieden.
Knapper Wahlausgang erwartet
Zum ersten Mal seit seinem Amtsantritt 2003 geht Erdogan nicht als Favorit ins Rennen - obwohl seine AKP seither alle Wahlen gewonnen hat. Fast alle Umfragen sehen Kilicdaroglu vorn.
Für die Türkei könnte es eine der wichtigsten Wahlen seit Langem sein, es gehe um eine Richtungsentscheidung, heißt es allenthalben. Geht es weiter wie bisher, mit einem autoritär regierenden Präsidenten? Oder entwickelt sich die Türkei wieder hin zu einer parlamentarischen Demokratie?
Kämpft auch mit Gesten um die Herzen der Wähler - und gegen das Image als ewiger Wahlverlierer: CHP-Chef Kılıçdaroğlu
Überrascht Erdogan erneut?
In der kleinen Bäckerei im Istanbuler Stadtteil Cihangir hoffen viele auf einen Politikwechsel. Aber sie zweifeln auch daran, dass er tatsächlich kommt. Sie kennen Erdogan als einen trickreichen Wahlkämpfer. Manche befürchten, dass er auf der Zielgeraden noch etwas aus dem Ärmel zaubern wird.
Außerdem stehen viele Medien und der Staatsapparat hinter ihm. Da gibt es Abhängigkeiten, das sieht auch der Politikwissenschaftler Ufuk Uras so. Auch er sieht Erdogan unter Druck und rechnet doch mit einem "Fotofinish": "So mit zwei Prozentpunkten Unterschied entweder für die eine oder die andere Allianz", sagt der Politikwissenschaftler. Auf alle Fälle müsse Erdogan um seine Macht zittern.