Ukrainische Gegenoffensive "Wir haben auf Leichen geschlafen"
Nach dem Aufstand von Wagner-Chef Prigoschin in Russland waren die Hoffnungen auf schnelle militärische Fortschritte der Ukraine groß. Doch es geht langsamer voran als erwartet. Ukrainische Militärs verweisen auf das Fehlen moderner Kampfjets.
Wenige Kilometer sind die ukrainischen Streitkräfte bisher vorgerückt und laden in einige zurückeroberte Dörfer auch Journalisten ein. Sie sollen der Welt von den Kämpfen berichten. Doch große Erfolge hat die Ukraine bisher nicht vorzuweisen. Auch der Aufstand von Söldner-Chef Jewgeni Prigoschin in Russland vor einer Woche hat daran nichts geändert.
Zu dicht seien die russischen Minenfelder, sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Wochenende vor Journalisten. "Man kann die Menschen nicht einfach in den Tod schicken, nur weil man bis zum NATO-Gipfel etwas erreicht haben muss, weil irgendwem von den Verbündeten das Vertrauen fehlt, dass er die Ukraine aus gutem Grund unterstützt", so Selenskyj. "Das ist Politik. Aber wir befinden uns hier im echten Leben. Und im echten Leben haben wir einen echten Krieg. Leider zu hohen Kosten."
Frustriert über angeblich zu hohe Erwartungen aus dem Westen zeigt sich auch der Oberkommandierende der ukrainischen Streitkräfte, Valerii Saluschnyj. Für ein schnelleres Vorankommen benötige man moderne Kampfflugzeuge. Doch die Ukraine musste ohne die F-16-Kampfjets in die Gegenoffensive. Die Verluste auf beiden Seiten sollen hoch sein.
Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch offizielle Stellen der russischen und der ukrainischen Konfliktparteien können in der aktuellen Lage nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.
Harte Kämpfe - geringe Fortschritte
Aus einem eroberten Schützengraben meldet sich über Telegram Valerii Markus zu Wort - Kommandeur einer ukrainischen Einheit, die im Süden versucht, durch die russischen Verteidigungslinien zu brechen. Auch er berichtet von harten Kämpfen.
"Wir sind gezwungen, diese Nacht wieder auf dieser Position hier zu bleiben", erzählt Markus. "Der Graben ist schmal und voller Leichen der scheiß Russen. Wir haben versucht zu schlafen, uns auszuruhen. Wir haben auf den Leichen geschlafen." So eine Erfahrung habe er ehrlich gesagt noch nie gemacht. Aber es sei weich, so viel könne er sagen.
Verschwindend gering sind bisher die Fortschritte angesichts der Kriegsziele der ukrainischen Regierung. Nämlich die Rückeroberung des gesamten von Russland besetzten Gebiets. Noch etwa 20 Kilometer sind es für die Ukrainer bis zur Stadt Tokmak - etwa 70 Kilometer noch bis Melitopol. Beide Städte wären nennenswerte Erfolge im Süden.
Ukraine startete Gegenoffensive ohne Lufthoheit
Es sei die größte Schlacht in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg, sagt der ukrainische Sicherheitsexperte Mychajlo Samus. "Falls jemand aus dem Westen sagt: 'Oh, die Offensive ist langsam.' Ok, gut. Wenn wir die F-16 haben, wird es schneller gehen. Haben wir aber nicht." In diesem Sommer bestehe die Hauptaufgabe darin, durch die russischen Verteidigungslinien zu brechen, so Samus weiter. Und im nächsten Jahr mit der F-16 und den ATACAMs würden sie dann alle Gebiete inklusive der Krim befreien.
Die Ukraine hat die Gegenoffensive gestartet, ohne die Lufthoheit zu besitzen. Einzigartig sei das, sagen viele Experten. Die allermeisten Militärs hätten einen Angriff unter solchen Bedingungen wohl kaum begonnen.
Doch die Ukraine hatte keine Wahl, meinen viele. Je länger man wartet, desto mehr Zeit hat auch das russische Militär sich vorzubereiten. Mychajlo Samus ist dennoch optimistisch. Nächstes Jahr könne der Krieg beendet werden, meint er.