Georgien und die EU Die Hoffnung nicht aufgeben
Die überwältigende Mehrheit der Georgier will einen Beitritt in die EU - dass ihr Land auch jetzt nicht zum Beitrittskandidaten wird, enttäuscht viele. Doch ein Forderungskatalog der EU macht vielen Hoffnung.
Mehr als 20.000 Menschen sind am Montagabend ins Zentrum der georgischen Hauptstadt Tiflis gekommen. Sie wollten ein klares Zeichen zu setzen: "Wir sind Europa".
So stand es auf den Plakaten. Und von der vor dem Parlamentsgebäude aufgebauten Bühne schallte es: "Das georgische Volk hat sich die 'europäische Perspektive' schon vor langer Zeit erarbeitet und verdient es nun, als Beitrittskandidat zur Europäischen Union anerkannt zu werden." Dann sangen sie gemeinsam, mit Tausenden von Stimmen "Ode an die Freude", die Europa-Hymne.
Gefühlt schon in der EU
Wenige Tage später ist auf dem Rustaveli Boulevard von Großkundgebungen keine Spur. Die Menschen gehen entspannt ihrem Alltag nach, an ihrer Haltung hat sich aber nichts geändert.
Sie sei sehr enttäuscht, sagt die Rentnerin Ada im Vorbeigehen, dass Georgien von der Europäischen Kommission keine Empfehlung für den Status eines Beitrittskandidaten bekommen hat: "Europa bedeutet für mich nur das Beste - wirtschaftliche Stabilität und Freiheit."
Laut aktuellen Umfragen sind mehr als 80 Prozent der Georgierinnen und Georgier für einen EU-Beitritt. Geht man durch die Straßen der Hauptstadt Tiflis wirkt es sogar so, als sei das Kaukasusland bereits Teil der europäischen Familie: Wie selbstverständlich wehen vor dem Parlament und anderen offiziellen Gebäuden die blauen Flaggen mit den zwölf goldenen Sternen, die für die EU, aber auch den Europarat stehen, dessen Mitglied Georgien ist, - so auch vor dem Sitz der Präsidentin, Salome Surabischwili.
Auch sie hatte gehofft, dass über Georgien, das seinen Antrag auf Beitrittskandidatur wie die Ukraine und Moldau im Frühjahr, kurz nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine gestellt hatte, ebenso entschieden würde, wie über die anderen beiden, zumal ihr Land einst als "Vorreiter" galt: "Zugleich aber ist klar, dass es die vielen Schritte waren, die in den vergangenen Jahren unternommen oder eher nicht unternommen wurden, die diese vielschichtige Position bestimmt haben."
Mehr Rück- als Fortschritte?
Eine deutliche Kritik an der Regierungspartei "Georgischer Traum", der auch Opposition und Teile der Zivilgesellschaft vorwerfen, den europäischen Integrationsprozess ausgebremst zu haben.
Mehr noch: Georgien habe in den vergangenen Jahren erhebliche demokratische Rückschritte gemacht. Unter anderem, weil eine längst überfällige Justizreform ausblieb und der Mitbegründer von "Georgischer Traum", der Milliardär und ehemalige Premier Bidsina Iwanischwili, noch immer Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse ausübe.
Giorgi Khelashwili, Abgeordneter der Regierungspartei und stellvertretender Vorsitzender des Auswärtigen Parlamentsausschusses, kennt diese Vorwürfe und hält dagegen:
Vonseiten der georgischen Regierung sind wir bereit, diesen Weg zu gehen. Sowohl die EU- als auch die NATO-Mitgliedschaft haben wir als Ziele in unserer Verfassung festgeschrieben. Während unserer Regierungszeit wurde auch das Assoziierungsabkommen mit der EU unterzeichnet, die Visa-Freiheit für unsere Bürgerinnen und Bürger eingeführt und wir sind Teil einer Freihandelszone geworden, die langsam, aber stetig auch unseren heimischen Markt reformiert.
Zwölf Aufgaben für das Land
Zu dieser Expertise, erklärt der Abgeordnete, komme auch die Bereitschaft, die Ärmel hochzukrempeln und sich den Anforderungen zu stellen. Insgesamt zwölf Punkte hat die EU-Kommission formuliert, an denen Georgien bis zum Ende des Jahres arbeiten müsse, um ebenfalls eine Empfehlung für den Status eines Beitrittskandidaten zu erhalten.
Neben der Stärkung der Unabhängigkeit der Justiz, Bekämpfung von Korruption und Organisierter Kriminalität sowie der stärkeren Einbindung der Zivilgesellschaft in politische Entscheidungsprozesse steht an erster Stelle: Die Überwindung der politischen Polarisierung innerhalb des Landes.
Eine Aufgabe, die Parlamentsmitglied Khelashwili als enorm, aber schaffbar beschreibt. Dafür müssten aber beide Seiten aufeinander zugehen. Meist stehen sich Regierungspartei und Opposition unversöhnlich gegenüber. Konstruktive Debatten gibt es kaum. Ein vom EU-Ratspräsident Charles Michel vermittelter Parlamentsfrieden hielt nicht.
Chance und Versprechen
Auch Präsidentin Surabischwili fordert, dass sich der Ton innerhalb der georgischen Politik dringend ändern müsse, um überhaupt gemeinsam nach vorne blicken zu können.
In den nun seitens der EU gestellten Anforderungen sieht sie aber nicht nur eine Aufgabe für ihr Land, innenpolitisch an sich zu arbeiten. Sie wertet die erwartete Antwort aus Brüssel auch als ein Versprechen:
Wir bekommen etwas, worauf wir viele, viele Jahre gehofft haben - das ist die Anerkennung der Perspektive auf eine Mitgliedschaft. Bei all den vorhergehenden Schritten, von der Nachbarschaft zur östlichen Partnerschaft und der Assoziierung, hieß es von Seiten der EU immer: Versteht das nicht als Versprechen auf eine Mitgliedschaft. Das ist ein anderer Weg. Und diesen Weg beschreiten wir jetzt - das ist sehr wichtig.
Obwohl eigentlich klar ist, was die europäischen Staats- und Regierungschefs in diesen Tagen entscheiden werden, wird der Ausgang des Brüsseler EU-Gipfels in Tiflis mit Spannung erwartet. Diejenigen, die am Montagabend auf der Straße waren, könnten dann noch einmal rausgehen.
Denn für Georgien, das betonen alle Seiten, gehe es bei der angestrebten EU-Mitgliedschaft um weitaus mehr als um rein wirtschaftliche und politische Ziele - es gehe um Identität und ein klares Bekenntnis zu Europa.