Keir Starmer
analyse

Britische Regierung 100 Tage an der Macht - und schon in Not

Stand: 12.10.2024 08:11 Uhr

Trotz ihres triumphalen Wahlsiegs ist die britische Labour-Regierung schon 100 Tage nach Amtsantritt in großer Bedrängnis. Sie wirkt orientierungslos und erste Skandale spielen den Rechtspopulisten in die Hände.

Kein neu angetretener britischer Premierminister möchte die ersten 100 Tage in der Downing Street lernen müssen, wie man besser nicht regiert. Genau das aber ist die Lage, in die sich Keir Starmer nur knapp drei Monate nach seinem triumphalen Wahlsieg selbst manövriert hat.

Von einem Fehlstart zu sprechen, wäre untertrieben - die Lage ist womöglich ernster, denn der Regierungsflieger ist bereits in der Luft, dort jetzt aber in argen Turbulenzen.

Die Popularitätswerte Keir Starmers sind auf einem historischen Tief, seine eigene Partei liegt nur noch einen Prozentpunkt vor den Tories.

Schwierigkeiten waren zu erwarten, aber ...

Nun war ein solch schwieriger Beginn zu erwarten gewesen angesichts der katastrophalen Lage, in der die Tories die Staatskassen hinterlassen hatten. Und auch der massive Gegenwind, der einer Labour-Regierung von der überwiegend Tory-dominierten Presse entgegenblasen würde, war absehbar.

Dass allerdings die Regierung selbst ihren Gegnern so kurz nach ihrem überwältigenden Wahlsieg derart viel Munition liefern würde, um ihr Unternehmen zu torpedieren, ist etwas, was es in der Form in der jüngeren britischen Geschichte noch nicht gegeben hat.

Übermaß an schlechten Nachrichten

Es ging damit los, dass Starmer und seine Finanzministerin Rachel Reeves die von den Sparmaßnahmen der Tories ausgelaugten Briten über Wochen mit derart düsteren Prognosen über die finanzielle Lage des Landes überzogen, dass der kleine Funken Hoffnung auf bessere Zeiten, der noch im Juli mit dem Regierungswechsel aufkam, schon nach wenigen Wochen im Keim erstickt war.

Sicher, Starmer hatte versprochen, mit den leeren und nie eingelösten Versprechen der Tories aufzuräumen, eine ehrliche Bestandsaufnahme hatte deshalb auch jeder erwartet.

Was aber bis heute fehlt, ist ein klares Narrativ, wie Labour das Land durch die Krise führen will und eine Perspektive, wo man am Ende hin will.

Planlos und gleich in Machtkämpfe verstrickt

Die Wiederannäherung an die EU wird bislang so defensiv und ängstlich formuliert wie zuvor im Wahlkampf. Selbst von einem vereinfachten Jugendaustausch, den Brüssel vorgeschlagen hat, will Labour derzeit nichts wissen.

Das gleiche gilt für andere Politikfelder. Entstanden ist stattdessen ein Eindruck von Planlosigkeit, der durch heftige Machtkämpfe in der Downing Street selbst nur noch verstärkt wurde. Auseinandersetzungen im innersten Kreis um Starmer waren das, deren Details von dort auch noch fast täglich an die britische Presse geleakt wurden.

Ein Vakuum, das mit Skandalen gefüllt wird

Nach nur drei Monaten blieb dem britischen Premier damit nichts anderes übrig, als seine Stabschefin Sue Gray zu entlassen, die Frau, die eigentlich an vorderster Front dafür sorgen sollte, dass seine Wahlversprechen, das Land auf vernünftige, moralisch integre Weise zu erneuern, nun auch in der Regierung umgesetzt werden würden.

Das aber konnte sie zumindest nicht öffentlich vermitteln. Statt einen klaren Kurs zu entwerfen, wohin Labour das Land nun steuern will, ließ das Starmer-Team ein Vakuum entstehen, das die britische Presse dann bald täglich mit angeblichen Skandalen über die neue Regierung füllte.

Man hatte nämlich herausgefunden, dass Starmer und einige seiner Minister Wahlkampfspenden für Anzüge, Kleider und Designerbrillen von Parteispendern im Wert von mehreren zehntausend Pfund angenommen hatten.

Nun war nichts davon im eigentlichen Sinn illegal oder korrupt, all diese Spenden waren offiziell deklariert und die Summen hielten sich im Vergleich zu den millionenschweren Korruptionsskandalen der Tories auch durchaus in Grenzen.

Aber man kann nun einmal keinen Wahlkampf als "Partei der sauberen Weste" führen, und dabei gleichzeitig übersehen, wie leicht solche Spenden von einer absehbar feindseligen Presse ausgenutzt werden würden.

Farage reibt sich die Hände

Das nur als Naivität oder marginalen politischen Fehler abzutun, greift zu kurz. Der Eindruck, der sich durch das sogenannte "Frock-Gate" jetzt festgesetzt hat, ist fatal und hilft vor allem den dadurch weiter im Hintergrund erstarkenden Rechtspopulisten rund um Nigel Farage.

Dessen Mantra, die Mainstream-Parteien seien doch sowieso alle gleich korrupt, erfährt dadurch neue Nahrung und auch, wenn die nächsten Wahlen noch Jahre entfernt sind: Der Gegenwind, den die neue Regierung so selber mitproduziert hat, ist alles andere als hilfreich, um das Land jetzt klarsichtig und mit ruhiger Hand aus der Krise zu manövrieren.

Rechtspopulisten weiter im Aufwind

Da hilft auch die Tatsache nicht, dass die Tories sich in der Opposition weiter selbst zu demontieren scheinen. Die in dieser Woche gekürten zwei Kandidaten, die im November als mögliche Nachfolger von Rishi Sunak zur Wahl stehen,  gehören beide zum rechtspopulistischen Flügel der Partei.

Sowohl Kemi Badenoch als auch Robert Jenrick werden die Partei weiter an den ganz rechten Rand rücken. Das macht eine Rückkehr der Tories an die Macht zwar auf absehbare Zeit extrem unwahrscheinlich, es dürfte aber die rechtspopulistische Strömung rund um Farage noch verstärken.

Starmer ist gefordert

Nach 100 Tagen muss Starmer jetzt umgehend den Kurs neu ausrichten, während seine Crew mitten im Flug die Plätze tauscht. Mehr noch, er muss ihnen und dem Land jetzt deutlich ansagen, wohin die Reise eigentlich gehen soll.

Noch ist es nicht zu spät dafür. Ende Oktober will seine Finanzministerin ihren Haushaltentwurf vorstellen, die ideale Gelegenheit, die Fehler der ersten 100 Tage mit einer klaren Vision vergessen zu machen. Gelingt das nicht, könnten die nächsten Jahre von Dauerturbulenzen und genau der chronischen Instabilität geprägt sein, die die Briten ja eigentlich vor gut drei Monaten so deutlich abgewählt hatten.