Wladimir Putin begrüßt den vom Westen freigelassenen russischen Gefangenen Vadim Krassikow

Opferfamilie über "Tiergartenmörder" "Wir möchten, dass er sein Leben im Gefängnis verbringt"

Stand: 03.08.2024 15:19 Uhr

Beim Gefangenenaustausch wurde auch der sogenannte Tiergartenmörder Krassikow freigelassen. Die Familie seines Opfers hatte dem nicht zugestimmt - im Gegenteil. Ein Besuch bei den Angehörigen im georgischen Pankissi-Tal.

Die letzte Ruhestätte liegt am Rand einer umzäunten Wiese, aus der Löwenzahn schießt. Ein schwarzer Marmorstein ziert das Grab. Die weiße Inschrift: "15.08.1979 bis 23.08.2019 - Zelimkhan Dashna Sultanovich Khangoshvili". Er ist das Opfer von Vadim Krassikow - des sogenannten Tiergartenmörders.

Eine Woche nach dem Mord - also Ende August 2019 - wurde Zelimkhan Khangoshvili hier in seinem Heimatort bestattet: in Duisi im georgischen Pankissi-Tal, unweit der Grenze zu Russland. Die Bilder, die das Team von Radio Free Europe seinerzeit einfing, zeigen, wie eine große Menschengruppe zum Friedhof geht: Zelimkhans Verwandte, Freunde, Bekannte.

Pankissi-Tal galt als Unterschlupf für Untergrundkämpfer

Das Pankissi-Tal war einst berüchtigt, weil es lange Jahre für Islamisten ein Unterschlupf war. Hier ruhten sie sich aus von den Kämpfen auf der anderen Seite der Berge des Großen Kaukasus, wo sie in Tschetschenien gegen den russischen Staat vorgingen. Hier fühlten sie sich sicher, denn im Pankissi-Tal wohnen ebenfalls ethnische Tschetschenen mit georgischer Staatsangehörigkeit. So wie auch Zelimkhans Familie.

Familie des Ermordeten war gegen Austauschaktion

Der Besuch bei ihr - wenige Tage vor dem gerade abgewickelten spektakulären Gefangenenaustausch - galt der Frage, wie ihre Mitglieder es sehen würden, wenn der Mörder Zelimkhans im Austausch für Gefangene in Russland freikäme. Die Reaktionen waren eindeutig: Unverständnis. Zelimkhans Neffe Ali sagte, "weder ich noch sonst jemand in der Verwandtschaft möchte, dass irgendeiner gegen seinen Mörder ausgetauscht wird. Wir möchten, dass er sein Leben bis zum Ende seiner Tage im Gefängnis verbringt."

Wadim Krassikow war im Oktober 2020 in Deutschland vor Gericht gestellt worden. Das Urteil des Gerichts fiel etwas mehr als ein Jahr später: lebenslange Haft. Besonders brisant: Das Gericht sah es als erwiesen an, dass der Mörder Zelimkhans im Auftrag des russischen Staates gehandelt hatte. 

In der Urteilsverkündung hieß es: Seine - also des Opfers - Gegnerschaft zum russischen Zentralstaat sei Hintergrund des gut geplanten Mordes an Zelimkhan gewesen. "Konkrete Auftraggeber" habe man nicht ermitteln können.

Putin hat Tod Zelimkhans gerechtfertigt

Im Garten sitzend - in Duisi, im georgischen Pankissi-Tal - ist für Zelimkhans Schwester Zahira klar: "Hinter dem Mord steht Russland. Vor kurzem hat es Wladimir Putin persönlich zugegeben." Zahira zeigt auf dem Handy die Aufnahme einer Pressekonferenz, an der Russlands Präsident teilnahm. Eine Journalistin bat Putin um eine Stellungnahme zum Tiergartenmord. Darauf sagte der russische Präsident, er wisse, dass in Berlin ein Mensch umgebracht worden sei. "Er war nicht einfach ein Georgier. Er war ein Mensch, der an den Kämpfen im Kaukasus auf Seiten der Separatisten teilgenommen hatte. Er war kein Georgier von der Nationalität her. Nach ihm wurde bei uns gefahndet. Er war auch ein sehr harter und blutrünstiger Mensch."

Präsident Putin hob in den vergangenen Jahren immer wieder Zelimkhans Teilnahme am Zweiten Tschetschenien-Krieg und am Krieg zwischen Georgien und Russland 2008 hervor. Und er warf Zelimkhan vor, an islamistischen Anschlägen auf die Moskauer U-Bahn beteiligt gewesen zu sein.

Die Mutter angefleht, in den Krieg ziehen zu dürfen

Die Attentate oder Kriegsverbrechen hatte der ermordete Zelimkhan stets bestritten; die Teilnahme an den Kriegen jedoch nicht. Und Zahira findet es nach wie vor richtig, dass ihr Bruder Zelimkhan in den Krieg gezogen ist. "Zelimkhan hat unsere Mutter angefleht: 'Mama, lass mich bitte nach Tschetschenien und dort kämpfen; da werden Frauen und kleine Kinder umgebracht.' Er war noch sehr jung." 

Zuerst habe die Mutter keine Erlaubnis gegeben, so Zahira. Später habe Zelimkhan noch mal gebettelt: "Bitte, Mama! Denk‘ bitte darüber nach. Wenn hier bei uns so was passieren würde, was würdest Du tun?‘ Sie wollte zwar nicht, aber sie hat ihm schließlich doch erlaubt, nach Tschetschenien zu gehen. Und er hatte recht damit. Die Russen haben keine Kämpfer getötet, sondern Unschuldige; Kinder, Alte, Frauen."

Zelimkhan hatte ein facettenreiches Leben. Er kämpfte als Freischärler in zwei Kriegen. Er vermittelte nachweislich als Mediator zwischen georgischen und tschetschenischen Konfliktparteien. Er unterhielt Kontakte zu Islamisten, ohne - so Zelimkhans Familie - selbst Islamist gewesen zu sein. Er brachte als Agitator gegen Russland Tschetschenen zusammen.

"Tiergartenmord" als Signal an politische Gegner Moskaus

Und deshalb galt Zelimkhan dem russischen Staat als Feind. All das könnte die staatlichen russischen Stellen dazu gebracht haben, den Mord an Zelimkhan in Auftrag zu geben. Aber zu hören ist auch, dass der Mord, der sich in eine ganze Kette anderer politischer Morde Russlands reiht, ein weiteres Signal gewesen sei, das Moskau aussenden wollte - nämlich: "Wir kriegen unsere Gegner überall!" Also auch in Berlin.

Umgekehrt könnte jetzt der spektakuläre Austausch von russischen Oppositionellen gegen Vadim Krassikow, dem staatlichen russischen Auftragskiller auch als Signal verstanden werden - dafür, dass für die Täter politische Morde glimpflich ausgehen können. Und auch in Richtung Putin ein Signal - denn Kriege und Auftragsmorde seien ja Instrumente seiner Politik, wie Zelimkhans Neffe Ali meint. "Das ist seine Politik. Überall, wenn etwas Böses passiert, kommt es vom Kreml und von Putin."

"Blutrache unrealistisch"

Die Angehörigen Zelimkhans und auch andere Familien im georgischen Pankissi-Tal sind ethnische Tschetschenen mit georgischer Staatsangehörigkeit. Deshalb führt Ali, Zelimkhans Neffe, das traditionelle Stammesrecht an, wenn er an die Freilassung des "Tiergartenmörders" denkt.

"Bei uns gibt es die Tradition der Blutrache, aber nun - wir wissen ja alle, dass der Mann kein einfacher Killer ist, der für ein paar Tausend Dollar angeworben wurde, um eine Person zu töten. Deshalb werden sie ihm alles geben, Dokumente und was er sonst so braucht. Ich denke, dass Blutrache unrealistisch ist." Der Mord an Zelimkhan dürfte also für die Familie ungesühnt bleiben. 

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete MDR aktuell am 02. August 2024 um 11:35 Uhr.