Krieg gegen die Ukraine Was geschah in Mariupol?
Vor fast zwei Jahren begann die russische Belagerung von Mariupol. Humanitäre Organisationen haben seitdem untersucht, was während der Belagerung geschah. Zu den Zeugen des Angriffs zählt auch der achtjährige Jehor.
Sonntag, 3. Mai: "Ich habe gut geschlafen, bin aufgewacht, habe gelächelt, bin aufgestanden und habe mein Buch bis zur Seite 25 gelesen. Mein Großvater ist tot, ich habe eine Wunde im Rücken, meine Haut ist weg, meine Schwester hat Verletzungen am Kopf und Mama hat kein Fleisch mehr im Arm und ein Loch im Bein."
Montag, 4. Mai: "Oma ging Wasser suchen und kam zurück. Übrigens, ich habe bald Geburtstag. Ich bin acht, meine Schwester ist 15, meine Mutter ist 38 und braucht einen Verband. Zwei meiner Hunde sind gestorben. Genauso wie meine Oma Halya und meine Lieblingsstadt Mariupol."
Es ist sind Tagebucheinträge des achtjährigen Jehor, geschrieben während der russischen Belagerung von Mariupol.
Ein Tagebucheintrag des achtjährigen Jehor vom 4. Mai 2022. Es sind die Erinnerungen einer Kindheit im Krieg.
Wochenlang unter Dauerbeschuss
Gerettet hat die Einträge Jehors Großonkel, der Fotograf Jewgenii Sosnowskii. Er lebte gemeinsam mit seiner Frau Switlana in einer Hochhauswohnung im Zentrum der ukrainischen Hafenstadt. "Ich hatte ein ganz normales, bequemes Leben", erzählt der 60-Jährige. "Ich hatte eine Wohnung, ich hatte einen Job, ich hatte Hobbys."
Dann bringt Russland am 24. Februar 2022 den Krieg nach Mariupol und damit auch in Sosnowskiis Leben. Die Bewohner der Stadt leben über Wochen unter Dauerbeschuss der russischen Armee. Es gibt keinen Strom, kein Wasser, kein Gas. Die Menschen behelfen sich mit dem Allernötigsten.
Monatelang belagert Russland die Stadt. Tausende Zivilisten sterben durch Angriffe oder die Folgen von Krankheiten oder Verletzungen.
Details weiterhin unklar
Was genau während der monatelangen Belagerung geschah und wie das Leben für Ukrainerinnen und Ukrainer seit der völkerrechtswidrigen Annexion Mariupols ist, lässt sich kaum sagen. Seit Mariupol unter russischer Kontrolle steht, haben ukrainische Behörden und internationale Ermittler keinen Zugang mehr zu der Stadt.
Die ukrainische Nichtregierungsorganisation Truth Hounds hat gemeinsam mit Human Rights Watch und SITU Research mühsam Beweise für das brutale russische Vorgehen gesammelt. Sie hat dazu Bewohner befragt, Hunderte Fotos, Videos und Satellitenbilder ausgewertet. Ihr Bericht ist erschreckend.
Mindestens 8.000 Menschen sollen bei den russischen Angriffen auf Mariupol getötet worden sein. Die Zahl sei mit hoher Wahrscheinlichkeit jedoch deutlich höher, da einige Gräber mehrere Leichen enthielten und einige Stellen möglicherweise nicht identifiziert worden seien. Die Ukraine gibt an, dass Zehntausende getötet wurden, kann aber keine genaue Zahl nennen.
Maryna Slobodjaniuk ist die Anwältin von Truth Hounds. Seit Jahren verfolgt sie Kriegsverbrechen. Von einem derartigen Ausmaß an gezielten Angriffen auf Zivilisten wie in Mariupol habe sie jedoch noch nie gehört.
Bericht über Zerstörung
Eine der Ermittlerinnen von Truth Hounds ist die Rechtsanwältin Maryna Slobodjaniuk. Sie hat die Ermittlungen geleitet, verfolgt Kriegsverbrechen seit Jahren. "Es war nicht das erste Mal, dass ich von Bombardierungen hörte", erzählt sie. "Aber von einem solchen Ausmaß an Zerstörung und gezielten Angriffen auf Zivilisten habe ich noch nie im Leben gehört. So etwas ist mir in meinem Beruf noch nicht begegnet."
Slobodjaniuk hofft, dass ihre Beweise die Verantwortlichen dieser Gräueltaten eines Tages vor ein internationales Gericht bringen. Alle Beweise seien da, jemand musste sie nur zusammentragen, sagt sie. Deshalb sei ihr Bericht so wichtig.
In dem gemeinsamen Bericht der Organisationen sind zahlreiche "offensichtlich rechtswidrige russische Angriffe" detailliert dokumentiert. Darunter die russischen Angriffe auf zwei Krankenhäuser, das berühmte Schauspielhaus der Stadt, ein Lebensmittellager, eine Verteilungsstelle für Hilfsgüter, einen Supermarkt sowie als Notunterkünfte dienende Wohngebäude.
Fast alle Wohngebäude, Bildungseinrichtungen, Krankenhäuser
Im Bericht heißt es dazu: "Bei jedem dieser Vorfälle fanden wir keine Beweise für eine ukrainische Militärpräsenz in oder in der Nähe des angegriffenen Gebäudes, was den Angriff zu einem rechtswidrigen willkürlichen Angriff gemacht hätte. Oder wir fanden eine begrenzte Militärpräsenz, was den Angriff wahrscheinlich rechtswidrig unverhältnismäßig gemacht hätte."
In dem gemeinsamen Bericht sei es den Organisationen gelungen, aufzuzeigen, "wie Russland es den Menschen unmöglich gemacht hat, in der Stadt zu leben", sagt Slobodjaniuk. Es seien nicht nur die Angriffe an sich gewesen, Russland habe die Zivilisten "mit allen erdenklichen Waffen" angegriffen.
Der Bericht dokumentiert, dass bis zum Ende der Belagerung Mitte Mai 2022 93 Prozent der 477 mehrstöckigen Wohngebäude im Zentrum der Stadt zerstört waren. Alle 19 Krankenhausstandorte Mariupols waren zerstört. Und 86 der 89 Bildungseinrichtungen, die die Organisationen in der Stadt identifizieren konnten, waren ebenfalls zerstört.
Fotograf Jewgenii Sosnowskii mit seiner Familie. Ganz vorne der achtjährige Jehor.
Erinnerungen einer Kindheit im Krieg
Jewgenii Sosnowskii hat die Angriffe überlebt. Dabei geholfen habe ihm vor allem seine Arbeit als Fotograf, erzählt er. Falls sie alle sterben würden, sollte etwas von ihnen bleiben. Also begann er, das Leben unter russischem Beschuss zu dokumentieren.
Diese Bilder erzählen Geschichten von Menschen in einem schrecklichen Alltag in einem brutalen Angriffskrieg. Auch die Geschichte seines kleinen Großneffen Jehor. "Ich weiß nicht mehr, wo ich dieses Notizbuch gefunden habe", sagt Sosnowskii. Vielleicht hatte es jemand verloren.
"Ich habe es dem Kind, Jehor, gegeben, als wir im Keller waren", berichtet er. "Damit er dort etwas malen kann, damit das Kind wenigstens etwas zu tun hat, um sich abzulenken von all dem." Doch Jehor malt nicht. Das merken die Erwachsenen erst später. Jehor beginnt, Tagebuch zu führen. Was er schreibt, rührt seinen Großonkel heute wieder zu Tränen. Es sind die Erinnerungen einer Kindheit im Krieg.
Sosnowskii fotografiert mit Jehors Erlaubnis das Tagebuch, veröffentlicht die Bilder auf Facebook. Als sie schließlich fliehen müssen, sind alles, was er mitnehmen kann, seine Fotofestplatten. "Das hat sich für mich als der größte Wert herausgestellt", sagt er. Alle anderen Gegenstände würden wieder hergestellt werden können, die Bilder jedoch nicht. Die gedruckten Fotos aus Papier seien verbrannt, nicht aber die auf seinen Festplatten.
Sie erzählen die Geschichte seiner geliebten Stadt Mariupol, mit seinen ukrainischen Bewohnerinnen und Bewohnern. Geschichten vor dem Angriffskrieg. Und Geschichten im Angriffskrieg.