Regierungskrise in London "Johnsons größtes Problem ist Johnson"
In den Tageszeitungen sind die Dutzenden Ministerrücktritte in der britischen Regierung ein großes Thema. Das Schicksal von Premier Johnson scheint besiegelt, meinen die einen. Er könne seinen Kopf noch einmal aus der Schlinge ziehen, schreiben andere.
Die "Süddeutsche Zeitung" schreibt: "Johnsons größtes Problem ist Johnson - der Charakter, das Halbseidene, die Spielernatur. Der großspurige Führungsanspruch des Premiers, seine vereinnahmende Persönlichkeit im Arbeitermilieu wie in den konservativen Kreisen der Elite steht im krassen Gegensatz zu seiner politischen Leistung und seiner charakterlichen Befähigung. Johnson ist eben kein Churchill, auch wenn er ihn noch so oft imitiert."
Die "Frankfurter Rundschau" merkt an: "Sie versuchen, die eigene Haut zu retten. Sie versuchen zu retten, was zu retten ist. In der Reihenfolge muss man die derzeitigen Abgänge aus dem Kabinett des Boris Johnson verstehen. Oder anders gesagt: Niemand geht wegen der angeblich unerträglichen Häufung von Skandalen, auch wenn das noch so beflissen empört vorgetragen wird. Der Hauptcharakterzug der britischen Konservativen des 21. Jahrhunderts? Selbsterhaltungstrieb: Macht Platz für mich, Frauen und Kinder zuletzt."
"Sein Charakter - der entscheidende Faktor"
Der "Cicero" unterstreicht: "Der Mangel an Wahrheitsliebe ist längst die größte Schwäche des Regierungschefs geworden. Für Boris Johnsons Aufstieg und Untergang war sein Charakter der entscheidende Faktor. Jetzt fällt Johnson auf den Kopf, dass er als Regierungschef viel zu große und viel zu viele Versprechen gemacht hat: Die verarmten Labour-Wähler im Norden und die betuchten Konservativen im Süden kann man auf Dauer nicht gleichzeitig zufriedenstellen: Geld ausschütten und gleichzeitig Steuern senken, das geht sich mitten in einer Wirtschaftskrise nicht auf Dauer aus."
Die "Hessische Niedersächsische Allgemeine" aus Kassel betont: "Man weiß nicht, über was man sich mehr wundern soll: über den Langmut der Briten, die Toleranz der eigenen Tory-Partei oder das Beharrungsvermögen Johnsons. Doch selbst die machtverliebteste Geduld ist endlich: Diesmal wächst ein Sturm in der eigenen Partei heran, der ihn aus Downing Street fegen könnte."
"Johnsons Schicksal scheint besiegelt"
Die "Volksstimme" aus Magdeburg kommentiert: "Dass Boris Johnson ein Trickser ist, hat er vielfach virtuos bewiesen. Ein Rücktritt wegen politischer Vorwürfe kommt für ihn nicht infrage. Inwieweit seine Torys im britischen Unterhaus hinter ihm stehen, ist für Außenstehende auch kaum ersichtlich. Vieles spricht dafür, dass 'tricky Boris' noch einmal seinen Kopf aus der Schlinge zieht. Der Trickser kann die Sache erst einmal aussitzen. Das ist Politik."
Die "Landshuter Zeitung" sieht das anders: "Johnsons Schicksal scheint besiegelt. Denn das Regieren wird für ihn unmöglich werden, ohne jeglichen Rückhalt und eingekesselt von Gegnern in der Partei. Angeführt wird der politische Sturm gegen ihn nun unter anderem von seinen früheren Ministern, konservativen Politikern mit Einfluss, die am Mittwoch zwischen Rebellen der Partei auf den hinteren Bänken im Parlament Platz genommen haben. Johnsons Zeit ist vorbei - vielleicht nicht heute, aber bald."
"Der finale Schlag war der Sexskandal um Pincher"
Die italienische Zeitung "La Stampa" merkt an: "Vielleicht ist es Zufall, aber dem verrückten Blondschopf, der Großbritannien aus der Europäischen Union führte, indem er ihm die Welt versprach, nur um sich dann gestrandet auf dem Grund des Ärmelkanals wiederzufinden, haben die Briten alles verziehen: den Umgang mit der Corona-Pandemie, die Märchen im Kabinett, die Lügen über die Party im Garten der Downing Street während Corona, den Umtrunk am Tag der Beerdigung von Prinz Philip. (...) Der finale Schlag, der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, war der Sexskandal um Chris Pincher. (...) BoJo wird aus anderen Gründen fallen, die wir kennen."
Die spanische Zeitung "La Vanguardia" schreibt: "Boris Johnson nähert sich immer schneller dem vorzeitigen Ende seiner Amtszeit als Premierminister des Vereinigten Königreichs. Die letzten zwei Tage waren vernichtend für ihn (...) Der Premier wehrt sich zwar noch. Aber die Maschinerie der Konservativen zu seiner Absetzung läuft auf Hochtouren. Und es gibt keine Anzeichen dafür, dass sie sich aufhalten lassen wird. Die Stunden von Johnson als Premierminister sind gezählt."
"Schaden war vorhersehbar"
Wie Johnson die aktuelle Regierungskrise überstehen kann, sei schwer vorstellbar, meint die konservative britische Zeitung "The Telegraph": "Nach den Regeln, die für die jüngste Vertrauensabstimmung galten, hatte Boris Johnson Anspruch auf ein Jahr Schonfrist. Seine Unterstützer sagen, der Sinn eines solchen Moratoriums bestehe darin, dem Premier eine Chance zu geben, seine Regierung wieder auf Kurs zu bringen. (...) Johnsons Schwierigkeit besteht jedoch darin, dass nicht die Opposition zu dem Schluss gekommen ist, dass er nicht mehr für das Amt des Premierministers geeignet ist, sondern eine Mehrheit in seiner eigenen Partei.
Er befindet sich in der gleichen Lage wie Theresa May, die ebenfalls eine Reihe von Rücktritten (...) und eine Vertrauensabstimmung überstand, nur um dann abgesetzt zu werden, als sich herausstellte, dass sie den Rückhalt der meisten ihrer Abgeordneten verloren hatte. Angesichts genau dieser Umstände ist es schwer vorstellbar, wie Johnson jetzt überleben kann."
Der Londoner "Guardian" meint: "Sein Rücktritt würde eine düstere und zerstörerische Zeit für die britische Demokratie beenden, in der die ungeschriebenen Regeln des Anstands und der Würde, die vor Machtmissbrauch schützen sollen, auf die Probe gestellt wurden - und sich als unzureichend erwiesen. Den Regierungsmitgliedern, die in den letzten Tagen beschlossen haben, dass es nun reicht, gebührt nur wenig Anerkennung. Ihre Rücktritte haben zwar dazu beigetragen, Johnsons Abgang zu beschleunigen, aber seine Untauglichkeit für das Amt war nie ein Geheimnis. Jeder, der Johnsons früheren Karriereweg verfolgt hat, konnte sehen, dass dieser mit Unwahrheiten und Betrug gepflastert war. Der Schaden, den sein narzisstischer Charakter dem Land zugefügt hat, war vorhersehbar."
"Integrität und Respekt für Regeln und das Gesetz"
Und die Londoner "Financial Times" stellt Überlegungen zur Nachfolge an: "Die Qualitäten, die man sich von einem Nachfolger erhofft, sind Integrität und Respekt für Regeln und das Gesetz, eine pragmatischere und seriösere Herangehensweise an die EU - einschließlich der Abkehr von der Missachtung internationaler Verträge - und die Bereitschaft, die wirtschaftlichen Herausforderungen, mit denen Großbritannien konfrontiert ist, verantwortungsvoll und entschlossen anzugehen. Mehrere der potenziellen Kandidaten erfüllen zumindest einige dieser Parameter nicht."