El Hierro Eine Kanareninsel wird zu Spaniens Lampedusa
Auf den Kanarischen Inseln kommen vermehrt Menschen in überfüllten Booten an, allein 13.000 in drei Monaten. Die kleinste Insel El Hierro ist zur Durchgangsstation geworden - und weiß nicht mehr, wie sie das stemmen soll.
Auf den Benzinkanistern liegen noch der Koran, ein paar Kekse, nasse Klamotten: Spuren der gefährlichen Fahrt über den offenen Atlantik in einem verlassenen Boot am Kai von La Restinga auf der Kanareninsel El Hierro - kaum vorstellbar, dass darin 68 Menschen tagelang Hunderte Kilometer zurückgelegt haben.
Nicht weit entfernt liegt ein weiteres bunt bemaltes Fischerboot. Ein Mann in einem Schutzanzug zerlegt es in Einzelteile. Nebenan bringt Fischer Jesús Machín seinen Fang ein: Thunfisch und Doraden.
Fischer wollen Menschen helfen
Als der kleine Hafen vergangenen Sommer voller Flüchtlingsboote lag, musste seine Kooperative ihren Fischladen dort schließen, erzählt Machín. Alles wurde von den Behörden abgesperrt. Trotzdem wollten die Fischer solidarisch sein: "Wir versuchen, so viel wie möglich zu helfen. Sie sind Menschen auf der Flucht vor Tragödien oder Kriegen." Dennoch wisse man nicht so genau, welche Art von Menschen da nach Europa komme, ob es etwa Terroristen seien oder Kriminelle.
Die Menschen, die es mit den jüngst angelandeten Booten bis zu ihrem Sehnsuchtsort Europa geschafft haben, haben den Hafen bereits verlassen. In einem Zeltlager im Inselinnern bekommen sie erste Hilfe und werden registriert. Auch viele freiwillige Helfer sind schon da, über ihre WhatsApp-Gruppe alarmiert. Jeder mache das, was er kann und was gerade gebraucht wird, erklärt ein Helfer auf dem Weg ins Zeltlager. Sie atmen auf, weil diesmal keiner der Angekommenen ins Krankenhaus muss und alle überlebt haben.
"Das übersteigt unsere Möglichkeiten"
Das Gelände, auf dem die Zelte stehen, wird im Frühling eigentlich für eine Veranstaltung gebraucht. David Cabrera, der Vizepräsident der Insel, kommt vorbei, um zu schauen, wie beides funktionieren kann: Flüchtlingshilfe und Inselalltag. Die Insel habe versucht, diese Situation nach besten Kräften zu bewältigen, sagt er. "Das übersteigt unsere Möglichkeiten, wir sind nicht darauf vorbereitet, so viele Menschen aufzunehmen."
Spaniens Regierung und die EU müssten helfen. Das wünschen sich die Regionalpolitiker, seit die sogenannte westafrikanische Fluchtroute von Menschen, die aus Afrika in die EU wollen, immer stärker frequentiert wird. Allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres sind nach Informationen des spanischen Innenministeriums über diese Routen ingesamt mehr als 13.000 Migrantinnen und Migranten auf den Kanareninseln angekommen, fünfmal so viele wie im ersten Quartal des Vorjahres.
Forscher: Atlantik-Route besonders gefährlich
Jüngst unterzeichneten der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit Mauretanien ein Migrationsabkommen. Die EU gibt Geld, damit Mauretanien seine Küste besser kontrolliert. Ein ähnlicher Deal existiert bereits mit Tunesien. Doch schon jetzt umgehen die Schlepper offenbar die Kontrollen vor den Küsten, wählen den gefährlicheren Kurs weit weg von der Küste auf dem offenen Meer.
Genau das ist auch der Grund, warum so viele Boote in El Hierro landen, das weiter weg von der afrikanischen Küste liegt als die anderen Kanareninseln. Im vergangenen Jahr landeten hier 14.500 Migranten - bei gerade einmal 11.000 Bewohnern.
Migrationsforscher Gerald Knaus weist darauf hin, dass auf dieser Route besonders viele Menschen ums Leben kommen. Man habe es mit einer dramatischen Migration zu tun. Aber auch wenn kleine Inseln hier große Zahlen an Menschen versorgen müssten: Die wirklich große Krise in Europa werde durch die Fluchtbewegungen aus der Ukraine erzeugt.
Gastfamilien - und spitze Bemerkungen
Die allermeisten Migrantinnen und Migranten, die in El Hierro ankommen, verlassen die Insel nach spätestens 72 Stunden wieder. Sie werden in Einrichtungen nach Teneriffa oder aufs spanische Festland gebracht. Einzig Minderjährige bleiben länger auf El Hierro, in einer speziellen Unterkunft oder bei Familien - derzeit sind es einige Hundert.
Gilberto Carballo und Teseida Padrón haben im vergangenen Jahr zwei senegalesische Pflegekinder aufgenommen. Die Halbbrüder Adama und Baye kamen mit ihrem Vater im Boot, die Mütter sind im Senegal, die Zukunft der Jungen ungewiss. Aber erstmal erleben sie jetzt Familienalltag auf Spanisch, mit der Sprache kommen sie schon gut klar.
An die Schule müssten sie sich noch gewöhnen, sagt Pflegemutter Padrón und bemerkt, dass nicht alle hier Pflegekinder mit offenen Armen empfangen. Kürzlich habe sie eine Mutter auf einem Spielplatz über eine Gruppe minderjähriger Migranten sagen hören, man fühle sich ja hier schon wie in Afrika.
Inselvizepräsident Cabrera lobt trotzdem die große Hilfsbereitschaft der Einwohner. Und erklärt sie so: Viele hier hätten selbst eine Migrationsgeschichte in der Familie. Im vergangenen Jahrhundert zog es viele Kanarier wegen der großen Armut auf den Inseln nach Mittel- und Südamerika. Aber, sagt Cabrera, alles habe seine Grenzen. Die kleine Insel El Hierro diskutiert nun über ihre Grenzen - so wie die große EU auch.