Leben im zerstörten Charkiw "Zuhause ist da, wo wir sind"
Zerstörte Wohnhäuser, Autowracks, Minen: Der Krieg hat die ostukrainische Stadt Charkiw verwüstet. Mittlerweile kehren viele ihrer Einwohner zurück - und versuchen das Unfassbare zu begreifen. Von Andrea Beer.
Zerstörte Wohnhäuser, Autowracks, Minen: Der Krieg hat die ostukrainische Stadt Charkiw verwüstet. Mittlerweile kehren viele ihrer Einwohner zurück - und versuchen das Unfassbare zu begreifen.
Der Wind fegt durch die zerschossenen, ausgebrannten Hochhäuser, die einmal ihr Zuhause waren. Schenja und Katja kehren zum ersten Mal seit ihrer Flucht Anfang März hierher zurück nach Nord-Saltiwka, einen Stadtteil von Charkiw in der Ostukraine.
Mit Schrecken erinnert sich Schenja an den Ausbruch des Kriegs: "Ich kann kaum beschreiben, wie das war. Am dritten Kriegstag habe ich Panzer gesehen, die sehr schnell an unserem Haus vorbeigefahren sind. Ob das ukrainische oder russische waren, weiß ich nicht. Bis dahin wusste ich überhaupt nicht, dass Panzer so schnell sein können", sagt er. "Das Schlimmste war, als wir im Keller saßen und Flugzeuge über uns geflogen sind. Denn als sie zurückkamen, habe ich immer gedacht: Jetzt haben sie ihre Bomben abgeworfen und wahrscheinlich sind Menschen gestorben."
Ausgebrannte Hochhäuser stehen im Charkiwer Stadtteil Nord-Saltiwka.
Ihre Instrumente konnte die junge Musikerfamilie inzwischen retten. Der fünfjährige Sohn habe zunächst ihr die Schuld an allem gegeben, erzählt Katja. "Er wurde sehr aggressiv, hat schlecht geschlafen und wieder in die Hose gemacht. Und auch unsere ältere Tochter war sehr wütend - auf die Russen und auf Nachbarn, deren Häuser heil geblieben waren. Und ich habe es ihr dann so erklärt: Zuhause, das sind keine vier Wände. Zuhause ist, da wo wir sind."
Jewgenyj wirkt im Kriegschaos verloren
Die russische Armee hat sich mittlerweile aus Charkiw zurückziehen müssen, doch Jewgenyj machen die vergangenen Monate weiter schwer zu schaffen. Aus der Hochhauswohnung hat er in den Keller ziehen müssen. Strom und Wasser gibt es dort nicht. Auch alle Dokumente seien verbrannt, sagt er. Auf einer Mauer im Innenhof sitzend zieht er an seiner Zigarette. Die letzten Tage seien ruhig gewesen, will er gerade sagen, dann knallt es.
Bewohner Jewgenyj musste in den Keller ziehen - ohne Strom und Wasser.
"Das ist nichts, das ist weit weg. Kein Grund zur Beunruhigung", sagt Jewgenyj. Dann mischt sich sein Nachbar Sergej ein: "Das ist nah", sagt er. "Aber das sind unsere, die Ukrainer. Wenn die Russen in unsere Richtung schießen, dann klingt das anders."
Jewgenyj nickt. Er wirkt in diesem Kriegschaos irgendwie verloren. Doch Sergej kümmert sich: "Um zwei Uhr bringt jemand Essen. Sieh zu, dass du einen Topf hast", sagt er. "Was für einen Topf denn?", fragt Jewgenyj. "Na, einen Topf eben. Hast du das verstanden?" - "Ja gut."
"Das ist eine Kanone von uns - das ist in Ordnung"
Auch Sergej steht unter Druck. Er lässt seinen Blick schweifen über die umliegenden Hochhäuser: Schwarz verkohlt sind sie, mit zerbrochenen Scheiben. "Ich wohne im 16. Stock, jetzt ohne Strom und damit ohne Aufzug. Nur noch eine Handvoll Menschen in zehn Aufgängen", sagt er, ebenfalls unterbrochen vom Grollen der Kriegs.
"Das ist eine Kanone von uns. Das ist in Ordnung", sagt Sergej. "In Ordnung?", fragt Jewgenyj und muss lachen. Sergej fährt unbeirrt fort: "Zwei Einschläge am 4. März und der Einschlag hier am siebten Aufgang war kurz vor dem 9. Mai. Am 1. Mai einer am Kindergarten am Haupteingang. Jetzt wird schon wieder aufgeräumt dort. Niemand kam ums Leben, weil alle schon weg waren. Nur wir wissen nicht wohin und bewachen das Haus."
Zerstörte Gebäude in Charkiw: "Hier habe ich als Kind gespielt."
Frust über Zerstörung und Minengefahr
Ein paar Straßen weiter steht ein ukrainischer Soldat in voller Montur mit seinem Gewehr zwischen hohen hellen Steintrümmern vor geisterhaft leeren Wohnblöcken. "Hier habe ich als Kind gespielt", sagt der 51-jährige Soldat ruhig. Dass Russland zivile Infrastruktur angreift, habe er erwartet, aber keine solche Zerstörung.
"Sie töten friedliche Zivilisten und zerstören Wohnhäuser", sagt der Soldat. "Es sind fast 2000, meist Mehrfamilienhäuser. Verbrechen an Zivilisten wie in Butscha, Hostomel oder Irpin wurden von unseren Kämpfern auch hier in der Gegend festgestellt, aber nicht so massenhaft. Allerdings sind auch noch nicht alle Dörfer befreit oder erst seit kurzem und sicher hat man noch nicht alles gefunden. Alles wird von den Behörden untersucht."
Ein großer schwerer Mann tritt hinzu und macht sich Luft: Kaum offene Läden, Minengefahr, im Hof hier mehrere Autowracks - wie die Häuser durch russische Raketen zerstört, beklagt er. "'Freundschaft der Völker', so heißt unsere Straße, sind das etwa unsere Freunde?" fragt Sergej sarkastisch.
Blumen blühen in den Trümmern
Der Sommer ist da und inmitten der Trümmer blühen rote und gelbe Tulpen und wunderbar duftender Flieder. Es sei so schön hier gewesen, trauert Tanja um ihr altes Leben. Die 64-Jährige mit dem dicken geflochtenen grauen Zopf geht hinunter in den Keller, der nun ihr Zwangs-Zuhause ist.
"Hier schlafen wir", sagt sie. "Wir ziehen uns nicht aus. Es ist noch kalt. Wir setzen Mützen auf und ziehen dicke Socken an und schlafen."
Täglich kehren Tausende zurück
Laut den Charkiwer Behörden kehren täglich rund 2000 Menschen wieder zurück. Das Musikerpaar Katja und Schenja will vorerst noch in der ukrainischen Stadt Poltawa bleiben, in die sie geflohen waren. Noch immer stehen sie vor den zerschossenen schwarzverbrannten Hochhäusern, die einmal ihr Zuhause waren, und sind fassungslos.
"In jeder dieser abgebrannten Wohnungen haben Menschen gelebt", sagt Schenja. "Sie haben gekocht, Kinder großgezogen, einander geliebt und all das ist zerstört. Menschen wurden getötet. Und jeder Mensch ist doch ein eigenes Universum. Wenn dies zerstört wird, ist das sehr schlimm."