Ukrainische Reaktionen "Das ist eine Einladung an Putin"
Wenige Ukrainer hatten damit gerechnet, dass die NATO ihr Land zum Beitritt einladen werde. Und doch enttäuscht die Vagheit der Beschlüsse von Vilnius viele. Manche befürchten, das könne den Krieg in die Länge ziehen.
In dieser Woche wurde Andrii Husak zu Grabe getragen. In Kämpfen bei Orihiv im Gebiet Saporischija im Süden des Landes hatte der junge ukrainsche Soldat beide Beine verloren, wurde schwer verletzt evakuiert und starb später im Krankenhaus. Husak hätte auch als Rechtsanwalt arbeiten können, sagte seine Mutter Olga Husak bei der Beerdigung in Dnipro, doch das wollte er nicht.
Tod und Verlust, rund ein Fünftel des Landes russisch besetzt und heftige Kämpfe im Süden und Osten: Das ist die Realität der Menschen in der Ukraine. Mit einer offiziellen NATO-Einladung hatte wohl kaum jemand gerechnet, doch der Gipfel in Vilnius hat gewiss nicht das erbracht, was sich die politische Führung und die meisten Menschen erhofft haben.
Am Ende gab es keine formale Einladung, kein konkretes Datum dafür, sondern ein Vertrösten auf später. Erst nach dem russischen Angriffskrieg soll ein Beitritt der Ukraine grundsätzlich möglich sein. Diesen verknüpft die Allianz zudem mit Reformen etwa im Bereich Korruptionsbekämpfung.
"Nur eine Frage der Zeit"
Auch wenn ihr klar gewesen sei, dass es dieses Mal noch keine Einladung geben werde, sagt Eva Boyko aus Kiew, sei sie doch enttäuscht, denn die Beschlüsse von Vilnius seien ein Signal an Russland, "dass sie beruhigter weitermachen können".
Boyko hofft nun auf die nächste Gelegenheit, und auch Sergej Kuprin ist sich zu "100 Prozent sicher", dass es eines Tages klappen werde, das sei "nur eine Frage der Zeit". Einstweilen aber sei die Enttäuschung groß, sagt der Kiewer, auch wenn die NATO-Staaten der Ukraine Waffen geben würden, so sei das doch keine Sicherheitsgarantie - wie eine Einladung in die NATO es wäre.
Die Angriffe gehen unverändert weiter
Es sei absurd, wenn es keinen Zeitrahmen für Einladung und Mitgliedschaft der Ukraine gebe, hatte Präsident Wolodymyr Selenskyi am ersten Gipfeltag seiner Enttäuschung zunächst Luft gemacht. Ein Zögern werde Russland motivieren, weiterzumachen.
Auch während des NATO-Treffens gab es russische Raketen- und Drohnenangriffe, unter anderem auf Odessa, die Region Sumy im Nordosten oder Kiew. Bei Artilleriebeschuss der Frontstadt Cherson kam eine Frau ums Leben.
"Wie sehen die Bedingungen aus?"
Derzeit bestehe keine Klarheit über die Bedingungen der künftigen NATO-Mitgliedschaft, so formulierte es Außenminister Dmytro Kuleba auf Radio Swoboda - und genau das sei das Problem. "Wie sehen sie aus?", fragte der Minister, wann seien sie erfüllt - und wer formuliere sie?
Volodymyr Yermolenko, Journalist und Präsident des ukrainischen Pen-Clubs, schrieb auf Twitter, niemand solle Angst haben und Entscheidungen auf eine Zeit nach dem Krieg verschieben. Denn wenn es heiße, dass die Ukraine nach dem Krieg NATO-Mitglied wird, sei das "eine Einladung an Putin, diesen in die Länge zu ziehen".
Die NATO ist nach Ansicht Yermolenkos "doch längst im Krieg", und er zählt auf: "Wir haben NATO-Waffen, wir haben NATO-Berater - die NATO befindet sich schon in einer Art hybridem Krieg."
Nur "ein Gremium"
Beim Gipfel in Vilnius kam auch der NATO-Ukraine-Rat zum ersten Mal zusammen. Politikexperten wie Wolodymyr Horbatsch vom internationalen euroatlantischen Zentrum in Kiew erwarten davon aber wenig. Vor dem russischen Angriff, argumentiert Horbatsch, hätten die Ukrainer dieser Entscheidung der Allianz applaudiert. Jetzt sehe er das eher als "politisches Ablenkungsmanöver".
In dem Rat könne die Ukraine mit allen NATO-Mitgliedern "interessante Dinge diskutieren", sagt Horbatsch. Aber es sei eben doch nur "ein Gremium" - und es gehe nicht um Sicherheitsgarantien, den NATO-Beitritt und wie die Ukraine geschützt werden kann. Er hoffe, "dass es dieses Gremium bis zum Beitritt und nicht lange gibt".
Was in den Händen der Ukrainer liegt
Es werde Waffen, Unterstützung und eine souveräne unabhängige Ukraine geben - das seien die wichtigsten Ergebnisse von Vilnius, schrieb Präsidentenberater Michaylo Podoljak nach dem Ende des Treffens auf Twitter: Leben und Sicherheit der Ukraine liege in ihren eigenen Händen, schrieb er, genau wie die Zukunft und Sicherheit Europas.
Der gefallene junge Soldat Andrii Husak kann all das nicht erleben. Mit 28 Jahren ruht er auf dem Friedhof in Dnipro, und seine Mutter Olha Husak ist voller Bitternis. Sie hoffe, dass ihn seine Brüder rächen werden, sagte sie - "und nach jeder Kugel, die in Richtung des Feindes abgefeuert wird, werde ich mich besser fühlen".