Vor Gipfel in Vilnius Die NATO-Perspektive der Ukraine
Rüstungshilfe, Sicherheitsgarantien, teilweise Mitgliedschaft, Vollmitgliedschaft, später oder jetzt - die Liste der Forderungen und Vorschläge zu NATO-Perspektiven der Ukraine ist lang. Doch was ist realistisch?
Natürlich soll und wird auch von dem NATO-Gipfel in Vilnius wieder ein demonstratives Signal der Solidarität mit der Ukraine ausgehen. Den Abwehrkampf des Landes gegen die russischen Aggressoren wollen die Bündnispartner jedenfalls weiterhin mit modernen Waffensystemen und Munition unterstützen.
Ziel ist es laut NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, der Ukraine langfristig Hilfe zu gewährleisten und das Land näher an die NATO heranzuführen. Dabei geht es unter anderem um die Lieferung von Treibstoff, Minenräumgeräten, mobilen Brücken oder medizinischer Ausrüstung.
Ukraine will Einladung und Garantien
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, der in Vilnius dabei sein wird, will aber noch sehr viel mehr. Er sieht das "Jahr der Entscheidung" gekommen und verlangt, dass die Ukraine auf dem Gipfel offiziell in die Allianz eingeladen wird und für die Übergangszeit bis zum tatsächlichen Beitritt Sicherheitsgarantien erhält.
Allerdings sollte Selenskyj die Erwartungen nicht allzu hoch hängen. Die gewünschte Einladung wird es nämlich für die Ukraine auf absehbare Zeit nicht geben. Genauso wenig wie einen Fahrplan hin zur Mitgliedschaft, den vor allem die baltischen und osteuropäischen Staaten gerne vereinbaren würden.
"De facto schon längst in NATO integriert"
Litauens Präsident Gitanas Nauseda hofft jedenfalls, dass der Ukraine "ein klarer Weg in die NATO" aufgezeigt wird. Und Lettlands Regierungschef Krisjanis Karins sagt: "Die Ukraine ist doch durch Waffenlieferungen und Trainingsmissionen de facto schon längst in die NATO integriert."
Andere sind da deutlich zurückhaltender. Vor allem die USA und Deutschland wollen lieber keine konkreten Zusagen machen. Nach Ansicht von Bundeskanzler Olaf Scholz sollte stattdessen die dauerhafte militärische, wirtschaftliche und politische Unterstützung der Ukraine im Mittelpunkt stehen.
Keine Chance für teilweise Aufnahme
Keine Chancen dürfte deshalb auch die Idee haben, die seit einigen Tagen zirkuliert und vom früheren NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen stammen soll. Der heutige Berater der ukrainischen Regierung könnte sich vorstellen, nur die Landesteile der Ukraine in die NATO aufzunehmen, die Kiew tatsächlich unter Kontrolle hat.
Bei der Frage der Sicherheitsgarantien gehen die Meinungen ebenfalls weit auseinander. Die meisten Osteuropäer und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron halten ein entsprechendes Signal der NATO Richtung Russland dringend für notwendig. Aber auch hier steht Washington auf der Bremse.
Rüstungshilfe statt Beistandsgarantie
Stattdessen wird unverbindlich von "Sicherheitszusagen" gesprochen, was zum Beispiel weitere Rüstungshilfe sein kann, nicht aber eine "Beistandsgarantie", wie sie in Artikel 5 des NATO-Vertrages verankert ist. Denn dann müssten die Bündnispartner der Ukraine bei einem erneuten russischen Überfall zu Hilfe kommen.
US-Präsident Joe Biden brachte kurz vor seiner Abreise nach Europa eine weitere Variante ins Gespräch. Bis zu einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine könnte Washington dem Land wie im Falle Israels Schutz bieten - jedoch nur unter der Voraussetzung, dass es einen Waffenstillstand oder einen Friedensvertrag gibt.
Kein "Heranführungsprogramm"
Ausdrücklich bekräftigen will die NATO die grundsätzliche Bündnisperspektive der Ukraine. Das aber gilt schon seit dem Bukarest-Gipfel von 2008. Die politischen Verbindungen zwischen Kiew und Brüssel sollen dafür mit der Gründung eines NATO-Ukraine-Rats gestärkt werden, der sich in Vilnius zum ersten Mal trifft.
Außerdem will das Bündnis auf das sonst übliche Heranführungsprogramm verzichten. Normalerweise verabredet die NATO mit potenziellen Beitrittskandidaten einen sogenannten "Membership Action Plan". Darin werden nicht nur militärische, sondern auch politische Standards vereinbart.
Allerdings arbeitet die NATO mit der Ukraine bereits so eng zusammen wie mit keinem anderen Partner. Bündnis-Staaten trainieren ukrainische Soldaten, westliche Waffen wie die Flugabwehrsysteme Iris-T und Patriot oder Kampfpanzer wie der deutsche "Leopard 2" sind in der Ukraine längst im Einsatz.
Forderung nach klarer Perspektive
Nach Ansicht von Verteidigungsexperten wie dem Chef der Münchner Sicherheitskonferenz und früheren Merkel-Berater Christoph Heusgen sollte die NATO der Ukraine trotzdem sehr viel klarer signalisieren, dass sie dazugehört und mit Kiew einen konkreten Pfad hin zu einem Beitritt ausarbeiten.
Die estnische Regierungschefin Kaja Kallas glaubt ebenfalls, dass eine Mitgliedschaft im westlichen Verteidigungsbündnis nicht nur die wirksamste Sicherheitsgarantie ist, sondern auch die billigste, um mögliche Aggressoren wie Russland abzuschrecken. Das beste Beispiel dafür sei schließlich ihr eigenes Land.
Allerdings, und darin sind sich dann alle 31 NATO-Staaten inklusive Generalsekretär Jens Stoltenberg tatsächlich einig: Chancen auf die schon seit langem in Aussicht gestellte und dringend herbeigesehnte NATO-Mitgliedschaft hat die Ukraine erst dann, wenn der Krieg vorbei ist.