Nach Dammbruch in der Ukraine "Ich weiß nicht, was wir tun werden"
Die verlassene Kinderstation eines Krankenhauses in Cherson ist zur Zuflucht für ältere Menschen geworden, die nach dem Bruch des Kachowka-Staudamms alles verloren haben. Sie sind entkräftet und verzweifelt, doch auch voller Trotz.
Juri Pekurin sitzt resigniert und mutlos auf einem Bett in der Kinderabteilung des Krankenhauses von Cherson. Eine Sprachlähmung macht ihm Probleme. Er ringt um Worte, möchte sich unbedingt ausdrücken und gestikuliert mit beiden Armen. Immer wieder legt er verzweifelt den Kopf in die Hände. "Ich bin zutiefst erschüttert", formuliert er schließlich unendlich mühevoll. "Ich werde Putin zerreißen", kämpft es sich dann aus ihm heraus. Das ist wohl nur ein winziger Teil der tiefen Verzweiflung, die dieser alte Mann im karierten kurzärmeligen Hemd im Herzen trägt.
"Putin wird vor Gericht gestellt. Darauf läuft alles hinaus", sagt Zimmergenosse Viktor Demtschenko, der ebenfalls aus Cherson stammt. Er spricht ruhig, doch er wirkt angespannt und knetet nervös die Hände. Peinlich genau verbirgt er dabei die Fingerstümpfe an seiner linken Hand. "Zwei Kriege habe ich mitgemacht", sagt der 59-Jährige mit dem grauen Bart und den hellen blauen Augen. "Die Russen verletzten absolut alle Regeln die es gibt, das kann ich aus langer Kriegserfahrung sagen."
Die Kinderabteilung des Krankenhauses von Cherson, die zur Zuflucht nach dem Dammbruch geworden ist.
"Ich habe nichts mehr"
In den 1980er-Jahren war Demtschenko als Soldat der Roten Armee in Afghanistan, nachdem die Sowjetunion dort einmarschiert war. Damals passierte ihm die Verletzung mit der linken Hand. Trotz dieser Behinderung schloss er sich 2014 einem ukrainischen Freiwilligen-Bataillon an, das gegen den russischen Angriff im Donbass kämpfte. Er würde alles tun, um weiter mitzumachen, doch er ist als Invalide eingestuft und zu alt.
Im Moment wirkt Demtschenko ohnehin, als hätten ihn alle Kräfte verlassen, denn auch er hat alles verloren. "Die Russen haben den Damm gesprengt und bei uns im Stadtteil ist das Wasser sehr schnell gestiegen. Ich hatte gerade noch Zeit, meine Papiere zu nehmen, den Militärpass habe ich leider nicht retten können. Ich habe nichts mehr, leider auch kein Haus." Demtschenko muss schlucken, fängt sich aber wieder. Seine Frau hat sich scheiden lassen, seine Kinder sind in Norwegen, und er fühlt sich mutterseelenallein.
"Kinder gibt es kaum noch hier"
"Das hier ist ja eigentlich die Kinderstation", sagt Sanitäterin Viktoria, als sie durch die Gänge eilt, in deren Nischen haufenweise Stofftiere aufgereiht sind. Viele Fenster sind mit hellem Sperrholz vernagelt, denn seit der Rückeroberung durch die ukrainische Armee im vergangenen Jahr ist Cherson nicht nur frei, sondern auch eine brandgefährliche Frontstadt geworden.
Das Krankenhaus wurde mehrfach von russischen Angriffen getroffen, und auch die laufenden Evakuierungen stehen unter Beschuss. "Kinder gibt es kaum noch hier", erzählt eine Ärztin im Vorbeigehen, denn viele Familien hätten Cherson verlassen.
Auch das Krankenhaus wurde mehrfach von russischen Angriffen getroffen.
"Dann haben sie beschlossen, uns zu ertränken"
So ist in den bescheidenen Krankenzimmern auch Platz für Praskowja Andriivna. Im September wird sie 85. "Wo werde ich dann sein?", fragt sie sich und bittere Tränen rollen über ihr faltiges Gesicht. "So lange haben uns die Russen bombardiert und wir konnten nicht schlafen. Es hat Einschläge direkt neben dem Haus gegeben und dann haben sie beschlossen, uns zu ertränken."
"Ich weine gleich mit", sagt Sanitäterin Viktoria mit belegter Stimme, denn diese verzweifelte alte Dame im geblümten Kleid könnte einen Stein erweichen. Ein russischer Angriff zerstörte auch den Zaun um ihr Zuhause am rechten Dnipro-Ufer in Cherson, das nun unter Wasser steht.
Andriivna umklammert den blau umwickelten Griff ihres Holzstocks. "Ich weiß nicht, was wir tun werden. Wir warten erst einmal, bis das Wasser weg ist, doch unser Haus ist eine Ruine. Wir hatten drei Hühner, aber sie sind alle ertrunken", sagt die alte Dame schluchzend.
"Mama, beruhige dich bitte", fällt Natalja Nikiforenko ihrer Mutter immer wieder ins Wort. Doch auch sie erzählt aufgewühlt mit großen Gesten, wie sie die Lebensgefahr erst gar nicht begriffen hat. Sie habe sich über den Lärm gewundert, den das Wasser an diesem frühen Morgen machte und dann gesehen, wie das Wasser fast aus dem Brunnen gequollen sei. Eine Nachbarin sei fast nicht mehr aus dem Haus gekommen.
"Ich stand so unter Schock, dass ich mich gar nicht bewegen konnte", sagt Nikiforenko. "Meine Mutter hat gesagt, ich soll kommen. Aber ich konnte nicht und habe nichts gefühlt. Es war so beängstigend."
Juri Pekurin ist zutiefst verzweifelt.
Das Wasser geht zurück, der Krieg geht weiter
Viele haben zumindest ihre Papiere retten können, da sie diese seit Beginn der russischen Großinvasion immer griffbereit liegen haben, sollten sie schnell fliehen oder wegen russischer Angriffe in den Keller müssen. Das Wasser zieht sich inzwischen stetig zurück, doch der russische Angriffskrieg geht weiter.
"Alles ist überflutet und wir haben keinen Ort zum wohnen mehr", sagt Pekurin, dem das Sprechen sehr schwer fällt. "Alles ist sehr schlimm", ergänzt Zimmergenosse Demtschenko sorgenvoll. Als müsste er sich selbst vergewissern, fährt er fort: "Niemand wirft mich aus dem Krankenhaus. Ich bin Kriegsinvalide und habe viele Orden, niemand wirft mich hinaus."
Sie alle haben ihr Zuhause vorerst verloren. Die Kinderabteilung des Krankenhauses in der Frontstadt Cherson ihr rettendes Obdach geworden.