Kinder im Ukraine-Krieg Luftballons verboten
Zerstörung, Flucht, Tod - Millionen von Kindern in der Ukraine müssen lernen, den Krieg zu verstehen und zu verarbeiten. Eine Herausforderung, für die selbst den Erwachsenen oft genug die Worte fehlen.
Die braunhaarige Karolina verbirgt ihr Gesicht an der Schulter ihrer Mutter Dascha. "Dort ist ein großes Auto", murmelt sie. "Ja, meine Sonne", antwortet Dascha liebevoll und lächelt. Die beiden stehen in Dnipro für humanitäre Hilfe an. Denn ihre Heimatstadt Charkiw hat die Familie wegen russischer Raketenangriffe und den nahen Kämpfen verlassen. Bomben, Raketen, Artilleriebeschuss. Die dreijährige Karolina hat alles hautnah mitbekommen.
"Sie fragt, was das für Einschläge und Explosionen sind. Und sie versteht nicht was los ist. Wie denn auch?", sagt Dascha:
Sie hat das Wort Krieg zum ersten Mal in ihrem Leben gehört. Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Erkläre ich das dem Kind oder nicht? Ich weiß nicht was ich machen soll.
Dascha und ihre Tochter
2,5 Millionen Kinder in ihrer Heimat auf der Flucht
Kinder nicht anlügen, sie aber dennoch schonen. So bringt es Marina Kazulenka-Bojka sinngemäß auf den Punkt. Die ernst wirkende Kinderpsychologin sitzt unter einer Wäscheleine auf einem wackeligen Stuhl im großen Hof einer Unterkunft für Binnenflüchtlinge. Drei kleine Mädchen sind ganz in ihr Spiel versunken.
Laut den Vereinten Nationen sind etwa acht Millionen Menschen innerhalb der Ukraine auf der Flucht - davon 2,5 Millionen Kinder. Sie erleben Krieg, Zerstörung, Tod und Verwundung, Flucht und Bombardierung.
Sehr unterschiedliche Reaktionen bei Kindern
Ljuba suchte mit ihrem zwölfjährigen Sohn in der Charkiwer Metro Zuflucht. Der Junge habe das nicht gut verkraftet, weint sie: "Als die Flugzeuge uns bombardierten, hat das seine Seele, seine Psyche sehr verletzt. Das Kind war so lange beim Logopäden und hat seine Sprache wieder verloren."
Kinder erholen sich meist schneller als Erwachsene, reagieren auf Hilfe aber sehr unterschiedlich - je nachdem, woher sie kommen und was sie erlebt haben, sagt die 44-jährige Psychologin Kazulenka-Boyjka. Manche warten ab, andere malen und spielen gleich wieder, andere können Urin und Stuhl nicht mehr halten.
"Es gibt Kinder, die sehr erschrocken und verstört sind - durch Explosionen, und wenn sie lange bombardiert worden sind. Schlafstörungen kann man besonders hervorheben", so Kazulenka-Boyjka. Es könne Auslöser geben, etwa das Geräusch eines vorbeifahrenden Autos. "Wir erlauben hier keine Luftballons, da diese platzen können. Das erinnert an eine Explosion und kann retraumatisierend wirken. Dann müssten wir mit diesem Kind von vorne beginnen", erzählt die Psychologin weiter.
Stand Anfang Juni sind laut ukrainischer Generalstaatsanwaltschaft durch den russischen Angriff auf die Ukraine mehr als 240 Kinder getötet und mindestens 440 verletzt worden. Russische Besatzung, Raketenangriffe oder Artilleriebeschuss machte viele zu oft traumatisierten Waisen oder Halbwaisen.
"Wir reden darüber, wenn alles wieder gut ist"
Trotz allem - die Kinder wollen lernen, erzählt Valentina Iwlewa. Die lebhafte Direktorin der Schule Nummer 10 in Dnipro läuft durch leere Gänge. Bald sind Sommerferien, doch seit Anfang März haben ihre knapp 500 Schülerinnen und Schüler wegen des Kriegs nur Fernunterricht. Krieg, Folter, Vergewaltigung und Tötung von Zivilisten - wie in Butscha - das spreche sie im Unterricht nicht an, so Direktorin Iwlewa. Die Kinder fragten aber auch nicht.
Iwlewa führt durch die Klassenzimmer, in denen Matratzen für Flüchtende vorbereitet sind. In einer Ecke korrigiert Olena Vitaljewna gerade Klassenarbeiten. "Der Krieg hat das Leben der Kinder auf den Kopf gestellt", erzählt sie. Viele Eltern arbeiteten rund um die Uhr, oft bei der Armee oder im medizinischen Bereich. "Mit diesen Kindern ist das sehr schwierig", sagt Vitaljewna: "Wir hatten das Thema Familie - und es gab ein Gedicht über Mutter und Vater. Das habe ich weggelassen, um die Gefühle der Kinder zu schonen. Wir reden darüber, wenn alles wieder gut ist."
Die kleine Karolina aus Charkiw spricht mit Mutter Dascha unterdessen über den Hund Schuscha. Die Mutter verspricht:
Weißt du, meine Sonne, eines Tages ist alles wieder gut und das hier wie ein böser Traum.