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Europawahl 2024

Le Pen auf einer Veranstaltung des RN zur Europawahl in Paris (Frankreich)
interview

Ergebnisse der Europawahl "Sie werden viel Sand ins Getriebe streuen"

Stand: 10.06.2024 13:45 Uhr

Europa geht geschwächt aus der Wahl zum EU-Parlament hervor. Im Interview erklärt der Politik-Experte Wolff, welche Folgen der Erfolg rechter Parteien haben dürfte - und was der Wahlausgang in Frankreich auslöst.

tagesschau.de: Welches Signal geht Ihrer Einschätzung nach von dieser Wahl aus?

Guntram Wolff: Wenn man Europa als Ganzes ansieht, dann sieht man, dass es einen deutlichen Anstieg der rechten bis rechtsradikalen Parteien im Europaparlament gibt. Die sogenannte Mitte, die die von-der-Leyen-Koalition bislang im Parlament getragen hat, ist zwar noch in der Mehrheit, aber sie ist deutlich geschrumpft.

Die Botschaft ist insofern: Es ist in ganz Europa ein Rechtsruck und ein Anstieg des Populismus zu sehen, wozu auch das Bündnis Sahra Wagenknecht gehört.

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Einfache Rezepte gegen vielfache Sorgen

tagesschau.de: Was ist der entscheidende Grund dafür?

Wolff: Dafür gibt es unterschiedliche Erklärungen, und sie unterscheiden sich sicher von Land zu Land. Aber wir beobachten allgemein zwei Phänomene. Die Bürger haben Angst vor illegaler Immigration und sie denken, dass die Parteien der Mitte diese Angst nicht genügend ernst nehmen.

Und es gibt eine Angst vor steigenden Lebenshaltungskosten und fallenden realen Gehältern. Wir hatten hohe Inflation und wir haben die Ausgaben, die mit dem Klimaschutz auf uns zukommen. Da haben gerade rechtspopulistische Parteien versucht, mit einfachen Rezepten Wähler zu gewinnen.

Guntram Wolff
Zur Person
Professor Guntram Wolff ist Senior Fellow beim Institut Bruegel in Brüssel und lehrt an der Willy Brandt School of Public Policy der Universität Erfurt. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen europäische politische Ökonomie, wirtschaftliche Staatskunst, Geo-Ökonomie, Klimapolitik und Deutschlands geopolitische Strategie.

Worin sich die rechten Parteien einig sind

tagesschau.de: Wie sehr werden die rechten und rechtsextremen Parteien die Arbeit im Parlament prägen?

Wolff: Die rechten Parteien sind sich nicht einig. Das hat man auch daran gesehen, dass Marine Le Pen die AfD schon vor der Wahl aus der Fraktion ID ausgeschlossen hat. Aber gleichzeitig sind sie sich bei einigen Themen doch einig. Sie sind sich einig darin, dass sie weniger Migration wollen. Sie sind sich einig darin, dass sie keinen europäisch gelenkten "Green Deal" haben wollen.

Insofern glaube ich, dass sie viel Sand ins Getriebe streuen können. Vieles wird deutlich schwerfälliger auszuhandeln sein, weil die Mehrheiten in der Mitte des Europaparlaments schwieriger herzustellen sein werden.

"Von der Leyen wird wahrscheinlich mit beiden Seiten flirten"

tagesschau.de: Ursula von der Leyen hat sich am Wahlabend an die Parteien der Mitte gerichtet. Die wiederum verlangen von ihr eine klare Abgrenzung gegen die Parteien am rechten Rand. Und da war von der Leyen und die EVP im Wahlkampf vage oder offen. Wie will sie diesen Spagat meistern?

Wolff: Formal hat von der Leyens EVP zusammen mit den sozialdemokratischen Parteien und den Liberalen eine Mehrheit, um zur Kommissionspräsidentin gewählt zu werden. Aber im Europaparlament hält sich nicht jeder an die Fraktionsdisziplin. Sie wird also wahrscheinlich die Stimmen einer weiteren Partei bekommen müssen, um sicher zu sein, dass sie gewählt wird.

Die entscheidende strategische Frage ist: Macht sie einen Deal mit den Grünen oder macht sie einen Deal mit Giorgia Meloni und ihrer Partei? Die Sozialdemokraten in Deutschland haben sie davor schon gewarnt. Ob das bedeutet, dass man sich von Meloni auch nicht wählen lassen darf, haben sie nicht ganz so deutlich gesagt.

Es würde mich aber wundern, wenn von der Leyen die Grünen ganz außen vor lassen und das große Thema ihrer ersten Kommissionspräsidentschaft, den "Green Deal", aufgeben würde. Ich glaube, das wäre ein Fehler. Insofern wird sie wahrscheinlich mit beiden Seiten irgendwie flirten und versuchen müssen, auf beiden Seiten Unterstützung, und sei es nur punktuell, zu bekommen.

"'Green Deal' nicht mehr so populär"

tagesschau.de: Nun hat sie vom "Green Deal" zuletzt nicht mehr so viel geredet, wenn man zum Maßstab nimmt, dass sie das Projekt mal mit dem Versuch einer Mondlandung verglichen hat.

Wolff: Der "Green Deal" hat in der Tat für sie an Bedeutung verloren. Das zeigt, dass sie eine Politikerin ist, die auch schaut, wie der Wähler so denkt. Das Thema selbst bleibt, denn der Klimawandel bleibt eine dramatische Realität. Den "Green Deal" aufzugeben, wäre vollkommen idiotisch. Sie wird ihn aber nicht mehr mit der gleichen Verve vorantreiben.

Das Gute ist, dass ein Großteil der Gesetze beschlossen ist. Aber das reicht nicht. Man wird weiter nachfassen müssen, damit Europa beim Klimaschutz nicht zurückfällt, und dabei stärker auf Innovation und weniger auf Kosten, die die Bürger belasten, setzen müssen.

Man muss zur Kenntnis nehmen, dass die Grünen insgesamt am deutlichsten verloren haben. Möglicherweise ist der "Green Deal" mit seinem Ansatz auf Besteuerung und Regulierung bei den Bürgern nicht so populär, wie man dachte.

Macrons Entscheidung "ein Schock"

tagesschau.de: Können Sie sich vorstellen, dass der Ausgang der Wahl sich auch auf den Europäischen Rat auswirkt und dort möglicherweise die Gewichte verschiebt?

Wolff: Der Europäische Rat bleibt erst mal, wie er ist. Aber wir sehen, dass die Europawahl auch Auswirkungen auf die Stimmung in den Mitgliedsländern hat - am dramatischsten wahrscheinlich in Frankreich. Dass Emmanuel Macrons Partei enorm verloren und er die sehr radikale Entscheidung gefällt hat, nationale Parlamentswahlen auszurufen, ist ein Schock.

Diese Parlamentswahlen sollen schon in drei Wochen abgehalten werden. Es bleibt also wenig Zeit, um die Stimmung im Land zu ändern. Danach werden wir sehen, ob und wie das zu einer Veränderung der politischen Positionierung Frankreichs führt.

Insofern hat diese Europawahl über die nationalen politischen Prozesse Rückkopplungswirkung auf die Europäische Union. Europa geht auch deshalb geschwächt und in einem unsicheren Zustand aus der Wahl hervor.

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"Von der Leyen geht gestärkt aus der Wahl hervor"

tagesschau.de: Glauben Sie, dass mit einem geschwächten Macron und einem geschwächten Olaf Scholz Ursula von der Leyen eine zweite Amtszeit überhaupt noch zu nehmen ist?

Wolff: Die Frage ist, ob ihr die jemand im Europäischen Rat überhaupt nehmen möchte. Da sowohl Scholz als auch Macron geschwächt sind, müsste es in ihrem Interesse sein, weiterhin eine starke Kommissionspräsidentin zu haben, die sie kennen, anstatt irgendjemand neuen zu bekommen, bei dem sie weniger mitbestimmen können.

Da die EVP sogar zugelegt hat, kann von der Leyen mit einiger Berechtigung sagen, dass sie die legitime Anführerin Europas ist. Sie hat nicht verloren, sie hat gewonnen. Es sind die Sozialdemokraten und Renew Europe, die verloren haben. Deswegen glaube ich, dass von der Leyen gestärkt aus der Wahl hervorgeht.

Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 10. Juni 2024 um 09:00 Uhr.