Kinder gehen im Gazastreifen auf ein zerstörtes Haus zu.
faktenfinder

Krieg in Nahost Irreführende Vorwürfe gegen "Pallywood"

Stand: 30.10.2023 16:03 Uhr

In den Sozialen Netzwerken häufen sich Videos und Bilder, die angeblich beweisen sollen, dass Berichte von zivilen Opfern in Gaza inszeniert seien. Dabei fallen viele User jedoch auf Falschmeldungen herein.

Von Pascal Siggelkow, ARD-faktenfinder

"Palästinensischer Blogger nach 'israelischem Bombenangriff' innerhalb eines Tages 'auf wundersame Weise' geheilt. Gestern war er 'im Krankenhaus', heute geht er wieder, als wäre nichts passiert", heißt es in einem weit verbreiteten Post. Dazu werden ein Video und ein Bild nebeneinander verbreitet: Auf dem Video ist ein junger Mann zu sehen, der durch die Trümmer in Gaza geht und dabei in die Kamera spricht. Darüber steht "heute". Daneben ist ein Bild, das einen jungen Mann offenbar verletzt in einem Krankenhaus zeigt, versehen mit dem Schriftzug "gestern".

Der Vorwurf: Das Bild im Krankenhaus sei nur inszeniert, um vermeintlich zivile Opfer der israelischen Reaktionen seit dem Angriff der militant-islamistischen Hamas zu zeigen. Allerdings ist auf dem Bildmaterial nicht ein und derselbe Mensch zu sehen, wie unter anderem die Nachrichtenagentur Reuters berichtet. In dem Video handelt es sich um einen 25 Jahre alten palästinensischen Blogger, der junge Mann im Krankenhaus ist gerade mal 16 Jahre alt.

Auch die Zeitangaben stimmen nicht. Das Bild im Krankenhaus entstand bereits Wochen vor dem 7. Oktober, genauer gesagt wurde das Foto bereits im August veröffentlicht. Der 16-Jährige verlor demnach bei einer israelischen Razzia in einem palästinensischen Flüchtlingslager ein Bein.

Screenshot der Plattform "X"

"Pallywood" trendet in Sozialen Medien

Dass die Hamas und andere palästinensische Organisationen Bildmaterial mit zivilen Opfern inszenieren würden, um Mitleid zu erregen und Hass auf Israel zu schüren, ist ein weit verbreiteter Vorwurf im Netz. Unter dem Hashtag "Pallywood" (aus den beiden Wörtern Palästina und Hollywood), werden Videos und Bilder geteilt, die den Vorwurf vermeintlich belegen sollen. Bekannt wurde der Begriff unter anderem durch die gleichnamige Dokumentation des US-Amerikaners Richard Landes aus dem Jahr 2005.

Wie eine Analyse von "Logically Facts" zeigt, wurde der Begriff in den Sozialen Netzwerken zwischen dem 7. und 27. Oktober mehr als 146.000-mal von mehr als 82.000 Nutzern erwähnt. Durch die verbreitete Skepsis gegenüber Bildmaterial, die angeblich zivile Schäden zeigten, bestünde laut dem Leiter der Forschungsabteilung von Logically, Kyle Walter, die Gefahr, dass von den tatsächlichen humanitären Problemen der Zivilbevölkerung abgelenkt werde.

Dass die militant-islamistische Hamas und ihr nahestehende Organisationen nicht als vertrauenswürdige Quellen eingestuft werden können, zeigen unter anderem jüngere Beispiele von Falschmeldungen und gezielter Desinformation rund um den Krieg in Nahost. Dennoch sind viele der Bilder und Videos, die im Zusammenhang mit dem Begriff Pallywood in den Sozialen Netzwerken kursieren, falsch oder aus dem Zusammenhang gerissen.

Konfliktparteien als Quelle
Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch Konfliktparteien können in der aktuellen Lage zum Teil nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.

Bild zeigt Leichnam - keine Puppe

So wird beispielsweise von einigen Usern ein Bild von einem palästinensischen Mann verbreitet, der die Leiche eines Kindes in seinen Armen hält. Dazu heißt es jedoch, dass der Mann angeblich gar kein echtes Kind, sondern lediglich eine Puppe halten würde. Doch das ist falsch. Bildagenturen haben ebenfalls Bilder von der Szenerie, in denen der Mann und die Leiche zu sehen sind. Es handelt sich nicht um eine Puppe.

Ebenfalls falsch ist die Behauptung eines Posts, dass angeblich zwei Frauen zeigt, die in einem Bild als Hamas-Unterstützerinnen zu sehen sind und sich in einem anderen Bild als zivile Bombenopfer ausgeben. Wie der niederländische Journalist Peter Burger auf dem Kurznachrichtendienst X (früher Twitter) schreibt, handelt es sich nicht um dieselben Frauen auf den Bildern.

Auch Videos und Bilder, die beweisen sollen, dass Menschen in Leichensäcken gar nicht wirklich tot seien, sondern Schauspieler, sind oft in einem ganz anderen Kontext entstanden. Beispielsweise handelt es sich bei einen dieser Videos um Dreharbeiten zu einer Zombie-Werbung in Algerien und nicht wie fälschlicherweise behauptet um Palästinenser, die Todesfälle vortäuschen. In einem anderen Video wird eine Protestkundgebung von Studenten in Ägypten aus dem Jahr 2013 als vermeintlich aktueller Beweis präsentiert.

Vorwurf gegenüber ARD und ZDF

In pro-palästinensischen Kreisen wiederum wurde in den vergangenen Tagen ein Video verbreitet, um angeblich zu beweisen, dass die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ARD und ZDF einseitig pro Israel berichten würden. Dabei wird ein kurzer Ausschnitt eines tagesschau-Beitrags über die Freilassung von Yocheved Lifschitz gezeigt, die von der militant-islamistischen Hamas als Geisel genommen wurde. Darüber steht geschrieben: "Wie neutral sind ARD und ZDF?"

In dem tagesschau-Beitrag heißt es über Lifschitz, die mehr als zwei Wochen gefangen gehalten wurde: "Vor der Presse erzählt sie, was sie erlebt hat. Die Entführung, Schläge, Bewachung." Dann wird Lifschitz mit den Worten zitiert: "Ich bin durch die Hölle gegangen. Eine, die ich mir nicht hätte vorstellen können."

Hamas lässt zwei weitere Geiseln frei - noch über 200 weitere verschleppt

Melanie Marks, BR, tagesschau, 24.10.2023 17:00 Uhr

In dem geteilten Video folgt kurz darauf ein Schnitt, zusammen mit dem Text "vs. Realität". Im Anschluss wird ein Ausschnitt Lifschitz aus einem BBC-Beitrag gezeigt. Dort sagt sie - übersetzt von ihrer Tochter - dass die Geiselnehmer sehr freundlich den Geiseln gegenüber gewesen seien. So seien sie beispielsweise mit Medizin versorgt worden.

Unterschiedliche Sachverhalte

Der zusammengeschnittene Clip suggeriert, dass in der ARD und dem ZDF bewusst ein einseitiges Bild mit Blick auf den Krieg in Nahost geliefert wird. Dabei beziehen sich die angeführten Zitate von Lifschitz auf zwei verschiedene Sachverhalte.

In dem tagesschau-Beitrag spricht Lifschitz von der Entführung selbst. Diese bezeichnete sie als "Hölle", wie auch vielen anderen Medien zu entnehmen ist. Die Terroristen hätten in ihrem Kibbuz Nir Oz gewütet, hätten Menschen getötet und entführt und dabei keinen Unterschied zwischen Alten und Jungen gemacht.

Zwei Männer hätten sie auf einem Motorrad verschleppt. Einer habe sie während der Fahrt in den Gazastreifen mehrfach auf die Rippen geschlagen. Die Zitate aus dem tagesschau-Beitrag sind somit korrekt wiedergegeben und beziehen sich auf die Entführung.

Während ihrer Zeit als Geisel sind die Geiselnehmer hingegen freundlich zu ihr gewesen, sagt Lifschitz. Auch das lässt sich vielen Medienberichten entnehmen, auch dem in dem Clip gezeigten Videobeitrag der BBC. Der scheinbare Widerspruch in ihren Zitaten aus dem tagesschau-Beitrag und dem der BBC ist somit keiner, da sie sich in ihren Aussagen auf unterschiedliche Phasen der Geiselnahme bezieht. Jeweils beide Zitate lassen sich in Artikeln sowohl der tagesschau als auch des ZDF finden.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 24. Oktober 2023 um 17:00 Uhr.