Alarmierende Statistiken Deutschland - ein krankes Land?
Erreicht der Krankenstand in Deutschland wirklich immer neue Höchststände - und gefährdet so sogar den Wirtschaftsstandort? Wird die telefonische Krankschreibung missbraucht? Die kursierenden Zahlen zeichnen oft ein falsches Bild.
Die Zahl der Krankmeldungen erreicht neue Höchststände, gefährdet sogar den Wirtschaftsstandort - so lautet der Tenor vieler Meldungen. Der Spiegel fragt: "Ist Deutschland ein Paradies für Blaumacher?" In der Welt durften anonyme Arbeitnehmer erzählen, wie sie sich krankschreiben ließen, ohne wirklich gesundheitliche Probleme gehabt zu haben.
Insbesondere aus der Wirtschaft mehren sich deshalb Vorwürfe und Forderungen. Der Chef des Autobauers Mercedes-Benz, Ola Källenius, sagte dem Spiegel: "Der hohe Krankenstand in Deutschland ist ein Problem für die Unternehmen." Wenn unter gleichen Produktionsbedingungen der Krankenstand in Deutschland teils doppelt so hoch sei, wie im europäischen Ausland, habe das wirtschaftliche Folgen.
Der deutsche Werksleiter des US-Elektroautohersteller Tesla machte bei krankgemeldeten Mitarbeitern sogar unangekündigte Hausbesuche und fand daran "nichts Ungewöhnliches".
Der Düngemittel- und Salzhersteller K+S kappte seine Jahresprognose wegen Produktionsengpässen und begründete das mit einer hohen Zahl kranker Beschäftigter. "Auch uns treffen die überdurchschnittlich hohen Krankenquoten, die wir ja leider durchgehend in der Republik zurzeit sehen", erklärte Vorstandschef Burkhard Lohr dazu.
Widerspruch aus der Wirtschaft und von Krankenkassen
Eine Befragung von ranghohen Managern von 115 deutschen Industrieunternehmen im Auftrag des Beratungsunternehmens EY ergab dagegen, dass Themen wie Motivation und Krankenstand nur von wenigen Firmen als Standortproblem genannt wurden.
Ein anderes Bild zeichnet auch der aktuelle Gesundheitsreport des BKK-Dachverbands der Betriebskrankenkassen (BKK): Demnach sank die Zahl der Krankschreibungen 2023 mit 22,4 Fehltagen pro Beschäftigten im Vergleich zum Vorjahr leicht. Gleichzeitig wurde mit durchschnittlich 11,5 Arbeitsunfähigkeitstagen je Fall ein neues Zehnjahrestief erreicht.
OECD-Statistik widerspricht Rekordzahlen
Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) sieht ebenfalls keinen erhöhten Krankenstand in Deutschland: Laut ihren Daten fehlten Beschäftigte 2023 im Schnitt 6,8 Prozent ihrer Arbeitszeit wegen einer Krankheit - so oft wie im Durchschnitt der Vor-Corona-Jahre 2015 bis 2019.
In Frankreich liege der Wert noch etwas höher, in Belgien und Schweden auf dem gleichen Niveau, in Österreich und den Niederlanden niedriger. Die OECD basiert ihre Statistiken nicht auf Meldungen bei den Krankenkassen, sondern eigenen Befragungen.
Statistischer Sondereffekt lässt Zahlen steigen
Wie konnte diese Diskrepanz zustande? Forscher des Leibniz-Zentrums für europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) haben hierfür eine logische Erklärung: Sie gehen auf Basis einer aktuellen Studie davon aus, dass der Großteil des Anstiegs der Fehlzeiten auf eine bessere statistische Erfassung zurückzuführen ist.
Bis 2022 war es Arbeitnehmern überlassen, ob sie die Krankmeldung nicht nur dem Arbeitgeber, sondern auch der Krankenkasse weiterreichen. Dies erfolgte oft nicht, sodass die Daten bei den Versicherungen nicht registriert wurden.
Inzwischen erhalten die Krankenkassen automatisiert alle Krankmeldungen. Diese gehen so in die Statistiken der Kassen ein - was zu einem plötzlichen Anstieg der erfassten Fälle führte. Gleichzeitig spielten starke Erkältungswellen sowie ein bewussterer Umgang mit Atemwegserkrankungen nach der Pandemie eine Rolle.
Die ZEW-Forscher weisen jedoch darauf hin, dass es in Deutschland trotzdem noch keine einheitliche und repräsentative Datenbasis gibt, die Fehlzeiten nach Krankheitsdauer akkurat und vollständig erfasst.
Welche Rolle spielt die telefonische Krankschreibung?
Trotzdem hält sich die Behauptung, in Deutschland gebe es einen massiv erhöhten Krankenstand, weiter hartnäckig. Als ein Grund wird immer wieder angeführt, dass man sich auch ohne Arztbesuch telefonisch krankschreiben lassen kann und einige diese Option missbrauchen.
FDP-Chef Christian Lindner forderte deshalb, diese Möglichkeit abzuschaffen, um Arbeitsplätze zu mobilisieren. Ähnlich äußerte sich Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Arbeitgeber (BDA).
Die AOK-Vorstandsvorsitzende Carola Reimann widerspricht: Die Erfahrungen aus der Pandemie hätten gezeigt, dass die telefonische Krankschreibung verantwortungsvoll genutzt wurde und eine Möglichkeit sein kann, die Arztpraxen gerade in Infektionswellen zu entlasten, sagte sie den Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschland. "Für den hohen Krankenstand der letzten Monate und Jahre gibt es eine Vielzahl von Gründen. Die telefonische Krankschreibung gehört nach allem, was wir wissen, nicht dazu."
Die Wissenschaftler des ZEW sehen die telefonische Krankschreibung ebenfalls nicht als relevanten Faktor für die erhöhte Zahl der Krankschreibungen. Der Verlauf der Fehlzeiten von 2020 bis 2023 spreche gegen diese. So sei während der zeitweisen Aussetzung der Maßnahme kein Rückgang der Zahlen zu beobachten gewesen. Die Forscher empfehlen ebenfalls, das Vorgehen beizubehalten.