Krieg gegen die Ukraine Wie erfolgreich sind die Russland-Sanktionen?
Elf Sanktionspakete hat die EU mittlerweile gegen Russland erlassen - getragen von vielen westlichen Partnern. Dennoch entwickelt sich Russlands Wirtschaft besser als erwartet. Sind die Sanktionsmaßnahmen wirkungslos?
"Wirtschaftskrieg der dümmsten Regierung Europas gegen Russland läuft wie geschmiert!", schreibt die Bundestagsabgeordnete der Linkspartei, Sevim Dagdelen, Ende Juli auf X (früher Twitter). Auch ihre Parteikollegin Sahra Wagenknecht spricht von einer "falschen Sanktionspolitik", die "eindeutig gescheitert" sei. Gemeint sind die Sanktionen der EU und ihrer westlichen Partner gegen Russland.
Grund für diese Nachrichten: Der Internationale Währungsfonds (IWF) hatte Ende Juli seine Wirtschaftsprognosen für das laufende und das kommende Jahr bekanntgegeben. Demnach wächst die russische Wirtschaft dieses Jahr um 1,5 Prozent - und damit um 0,8 Prozentpunkte mehr als noch im April angenommen. Für das Jahr 2024 erwartet der IWF zudem ein Wachstum von 1,3 Prozent. Für Deutschland hingegen erwartet der IWF 2023 einen Rückgang von 0,3 Prozent.
Die Zahlen des IWF beziehen sich auf das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP). Das BIP bezeichnet den Wert aller Güter und Dienstleistungen, die in einem Jahr innerhalb des Landes einer Volkswirtschaft erwirtschaftet werden. Beim realen werden im Gegensatz zum nominalen BIP Preisänderungen beispielsweise durch eine Inflation berücksichtigt.
Russland stellt um auf Kriegswirtschaft
Bei der Bewertung der aktuellen Zahlen des IWF müssten allerdings auch die Entwicklungen des vergangenen Jahres berücksichtigt werden, sagt Michael Rochlitz, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bremen. Im Jahr 2022 ging das reale BIP in Russland um etwa 2,1 Prozent zurück - Anfang des Jahres hatte der IWF noch ein Wachstum von etwa drei Prozent erwartet. "Zusammen ergibt sich so ein sanktionsbedingter Rückgang um ungefähr fünf Prozent", sagt Rochlitz.
Insgesamt sei das jedoch sicherlich weniger, als viele zu Beginn der ersten Sanktionspakete vor mehr als einem Jahr erwartet hätten. Ein wesentlicher Faktor ist aus seiner Sicht, dass sich die russische Wirtschaft sehr stark auf den Krieg ausgerichtet hat. "Wir haben einen großen Anstieg an staatlichen Ausgaben im Rüstungssektor", sagt Rochlitz. "Die großen Rüstungsbetriebe laufen ununterbrochen, um diesen Krieg, der wahnsinnig viel Material verschleißt, weiter aufrecht zu erhalten."
Das geht auch aus den Zahlen des Föderalen Diensts für staatliche Statistik (Rosstat) hervor: Demnach gab es im Juni die größten Zuwächse unter anderem bei den Metallerzeugnissen und Radaranlagen. Ein weiterer Faktor für das Wirtschaftswachstum ist zudem das Baugewerbe. "In den von Russland besetzten Gebieten wird sehr viel investiert, um Straßen zu reparieren und zerstörte Gebäude wieder aufzubauen", sagt Rochlitz. Zeitweise gab es russischen Medienberichten zufolge sogar einen Zementmangel.
Einzelhandel profitiert, Autobranche bricht ein
Auch der Einzelhandel profitiert nach Angaben von Rochlitz von dem russischen Angriffskrieg. Denn sowohl die Soldaten als auch beispielsweise die Arbeiter in den Rüstungsfabriken erhielten verhältnismäßig hohe Löhne. "Dieses Geld kommt wiederum dem Einzelhandel in den Regionen zugute, in denen sich die Soldaten und Fabriken befinden."
Der Nachrichtenagentur Reuters zufolge hat Russland die Verteidigungsausgaben dieses Jahr verdoppelt: Sie machen damit ein Drittel der staatlichen Gesamtausgaben aus. Zum Vergleich: In Deutschland liegt der Anteil bei gut zehn Prozent.
Die aus wirtschaftlicher Sicht positiven Entwicklungen in den genannten Sektoren täuschen aus Sicht von Rochlitz darüber hinweg, dass es in vielen anderen Bereichen aufgrund der Sanktionen starke Einbrüche gab. So ist zum Beispiel die Automobilproduktion um mehr als 50 Prozent zurückgegangen, die Produktion pharmazeutischer Produkte um mehr als 40 Prozent.
Sanktionen im Finanzsektor "wirkungslos"
Vor allem die Sanktionen im Finanzsektor haben jedoch ihre Wirkung verfehlt, sagt Vasily Astrov, leitender Wirtschaftswissenschaftler am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW). "Russland war zum einen sehr gut darauf vorbereitet und die russische Zentralbank hat zum anderen rechtzeitig sehr kompetent reagiert. Das heißt, die Finanzpanik wurde in Grenzen gehalten."
Der Ausschluss aus dem Finanzinformationssystem SWIFT sei für Russland nicht überraschend gekommen, da die Maßnahme bereits 2014 nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim diskutiert wurde. Russland war daraufhin dazu übergegangen, weniger Handelstransaktionen über den US-Dollar abzuwickeln, schreibt der Politikwissenschaftler Andreas Nölke. Demnach fiel der Anteil der russischen Handelstransaktionen mit China, die mit US-Dollar abgewickelt wurden, von gut 90 Prozent 2013 auf unter 50 Prozent 2020, im Falle Indiens von 95 Prozent auf 20 Prozent 2019.
Die russische Zentralbank hatte es 2022 zudem schnell geschafft, den Fall des Rubels aufzuhalten und den Kurs wieder einigermaßen zu stabilisieren. Eine zentrale Rolle dabei spielte die mehrfach ausgezeichnete Notenbankchefin Elvira Nabiullina.
"Ich glaube, das einzige, womit die russische Regierung nicht gerechnet hat, war das Einfrieren der Währungsreserven", sagt Astrov. "Sonst kann ich mir nicht erklären, warum sie die Hälfte ihrer Reserven in den westlichen Ländern geparkt hat." Nach Angaben der EU sind etwa 300 Milliarden Euro an Vermögenswerten der russischen Zentralbank in der EU und den G7-Ländern blockiert.
Drittländer helfen bei Sanktionsumgehung
Ein weiterer Punkt aus Sicht der Experten, der die Effektivität der Sanktionen einschränkt, ist die Tatsache, dass viele Staaten sie nicht mittragen - darunter große Wirtschaftsnationen wie China, Indien, Brasilien oder die Türkei. So habe Russland zumindest einen Teil der Importe aus westlichen Ländern durch beispielsweise chinesische Produkte ersetzen und umgekehrt neue Abnehmer für seine Rohstoffe finden können. Wenn auch zum Teil zu deutlich schlechteren Konditionen.
So exportierte Russland nach Angaben der Internationale Energieagentur (IEA) im März diesen Jahres durchschnittlich 8,1 Millionen Barrel Öl pro Tag in andere Länder - der höchste Wert seit April 2020. Allerdings sanken die Einnahmen im Vergleich zum Vorjahr dennoch um etwa 43 Prozent. Und auch beim Gas, bei dem sich die EU-Mitgliedsstaaten noch auf kein graduelles Embargo einigen konnten, sanken die russischen Einnahmen zwischen Januar und Mai im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um fast 45 Prozent.
Viele westliche Produkte schaffen es auch trotz Exportverbot noch nach Russland - vor allem mithilfe von Ländern wie Armenien, Kirgisistan und Kasachstan oder auch der Türkei, Serbien und den Vereinigten Arabischen Emiraten. "Das sind alles Länder, die ein gutes Geschäft damit machen, dass sie sehr viele westliche Waren nach Russland exportieren", sagt Astrov. Diese Waren seien dadurch aber auch dementsprechend teurer für Russland.
Nach Angaben des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell gingen beispielsweise die Fahrzeugexporte aus der EU nach Russland im vergangenen Jahr um 78 Prozent zurück, während die Fahrzeugexporte nach Kasachstan um 268 Prozent stiegen. Daher beschloss die EU in ihrem elften Sanktionspaket, die Ausfuhr von sanktionierten Gütern und Technologien in Drittländer zu beschränken, "in deren Rechtsraum nachweislich ein anhaltendes und besonders hohes Risiko der Umgehung von Sanktionen besteht".
Sanktionen wirken vor allem langfristig
Insgesamt sind die Sanktionen aus der Sicht von Rochlitz und Astrov jedoch alles andere als wirkungslos. Allerdings könne es Jahre dauern, bis alle Maßnahmen ihre volle Wirkung entfalteten. "Kurzfristig sind die Auswirkungen der Energiesanktionen am effizientesten. Sie haben dazu geführt, dass die russischen Einnahmen stark gesunken sind", sagt Astrov. So wies Russlands Staatshaushalt für das erste Halbjahr dieses Jahres ein deutliches Defizit von umgerechnet 26 Milliarden Euro auf. Im entsprechenden Zeitraum des Vorjahres hatte es noch ein Plus von 14,7 Milliarden Euro gegeben.
Hinzu komme, dass die Exportverbote von Hochtechnologiegütern zu Engpässen in Russland führe. "Das beschränkt Russland schon sehr stark", sagt Rochlitz. Denn diese Produkte könne Russland nicht einfach aus anderen Staaten beziehen. Zudem haben schätzungsweise mehrere Hunderttausend Fachkräfte das Land seit Beginn des Angriffskriegs verlassen - davon viele aus dem IT-Bereich. "Das ist ein großer Verlust für Russland und wird das Wachstumspotenzial der Wirtschaft in den kommenden Jahren sicher beeinträchtigen", sagt Astrov.
Durch die Sanktionen werde Russlands Wirtschaft sich zukünftig deutlich schlechter entwickeln, als es möglich gewesen wäre. Vor allem die Mittelschicht sei davon betroffen, sagt Astrov. Bereits seit 2008 nimmt der Anteil Russlands am globalen BIP mit wenigen Ausnahmen konstant ab.
Die Erwartungen, dass die Sanktionen kurzfristig dazu führen würden, dass Russland den Krieg beende, seien jedoch von Anfang an übertrieben gewesen, so die Experten. "Die Sanktionen funktionieren, dass sie der russischen Wirtschaft schaden", sagt Rochlitz. "Aber sie haben nicht funktioniert, um irgendeine organisierte Front gegen Putins Politik im Land zu erzeugen."