Angriff auf Kinderkrankenhaus Typisches Beispiel russischer Desinformation
Nach dem Angriff auf ein Kinderkrankenhaus in Kiew versucht der russische Propagandaapparat, der Ukraine die Schuld in die Schuhe zu schieben und Verwirrung zu stiften. Dabei ist die Beweislage eindeutig.
Seit wenigen Tagen laufen die prorussischen Kanäle in den sozialen Netzwerken wieder heiß. Der Grund: Der russische Angriff auf das Kinderkrankenhaus in Kiew. Die Wahrheit sehe ganz anders aus, heißt es in den entsprechenden Kanälen: Eine ukrainische Luftabwehrrakete habe das Krankenhaus getroffen, die Rakete sei neben dem Krankenhaus eingeschlagen, die angeblichen Opfer und Helfer seien alles Schauspieler. Wie so oft nach solchen Ereignissen wird die Schuld umgekehrt, geleugnet und eine Nebelkerze nach der anderen gezündet.
"Diese Strategie zur Verwirrung setzt die russische Propaganda schon länger ein, man denke an die Kampagne nach dem Abschuss der Passagiermaschine MH17", sagt Dietmar Pichler, Desinformations-Analyst des Disinfo Resilience Network. "Es werden unzählige 'alternative Realitäten' geschaffen, welche den falschen Eindruck erzeugen, dass es ja viel wahrscheinlicher wäre, dass eine der vielen russischen Versionen stimmen könnte."
Ziel sei es nicht nur, möglichst viele Menschen von der russischen Version zu überzeugen, sondern alternativ zumindest Zweifel zu schaffen, nach dem Motto: "Man weiß ja gar nicht mehr, was man noch glauben kann", so Pichler.
Russische Rakete des Typs Kh-101
Dass das Kinderkrankenhaus Ochmadyt in Kiew von einer russischen Rakete des Typs Kh-101 getroffen wurde, gilt als ziemlich unstrittig. Zu dem Ergebnis kommt unter anderem die vorläufige Untersuchung des UN-Menschenrechtsbüros.
Auch zahlreiche Militärexperten haben Bilder und Videos ausgewertet, auf denen die Rakete kurz vor dem Einschlag gut zu erkennen ist. Sie kommen ebenfalls zu dem Schluss, dass das Kinderkrankenhaus von einer russischen Rakete des Typs Kh-101 getroffen wurde.
So sind in einzelnen Aufnahmen beispielsweise das Triebwerk hinten an der Rakete sowie die abgestumpfte Nase gut zu erkennen. "Es ist bewiesen, dass es eine russische Kh-101 war", sagt Nico Lange, Senior Fellow bei der Münchner Sicherheitskonferenz. "Das beweisen mehrere Videos in denen die Rakete mit ihren spezifischen Charakteristika klar zu erkennen ist. Das beweisen außerdem Trümmerteile der Kh-101 Rakete, die am Ort des Einschlags gefunden wurden. Wirkung und Explosion entsprechen der Wirkung einer Kh-101 Rakete. Es gab und gibt in diesem Fall keinerlei Zweifel."
3D-Modell zeigt ähnliche Merkmale
Die Rechercheorganisation Bellingcat hat zudem mit einem 3D-Modell der Rakete des Typs Kh-101 nachgewiesen, dass sie in der im Video zu sehenden Position ähnliche charakteristische Merkmale zeigen würde - anders als beispielsweise die US-amerikanische Rakete des Typs AIM-120, die laut einigen prorussischen Kanälen für die Explosion verantwortlich gewesen sei.
Auch weitere Indizien sprechen für die Version einer russischen Rakete. So hat der ukrainische Geheimdienst SBU mehrere Bilder von Überresten der Munition veröffentlicht, die das Krankenhaus getroffen haben soll. Sie zeigen einige typische Merkmale auf, die bei früheren Angriffen mit Raketen des Typs Kh-101 dokumentiert worden, zum Beispiel die Seriennummer und andere Markierungen.
Wo diese aufgenommen wurden, lässt sich nicht unabhängig überprüfen. Da diese Fragmente jedoch auch auf Bildern einer ukrainischen Nachrichtenwebsite zu erkennen sind, ist es sehr wahrscheinlich, dass sie in der Nähe des Krankenhauses aufgenommen wurden.
Keine Beweise für russische Version
Russland hatte die Ukraine am Montag nach ukrainischen Angaben mit mindestens 36 Raketen angegriffen, darunter 13 des Typs Kh-101. Allein in Kiew wurden demnach mehr als 30 Menschen getötet. Bei dem Angriff auf das Kinderkrankenhaus starben nach UN-Angaben mindestens zwei Menschen, etwa 50 wurden verletzt.
Der Kreml behauptet, die Klinik sei von der ukrainischen Luftabwehr getroffen worden, legte jedoch keine Beweise vor. Auch der Typ der vermeintlichen ukrainischen Rakete variiert dabei. "Ich bestehe darauf, dass wir keine Angriffe auf zivile Ziele vornehmen", sagte der Sprecher des Präsidialamtes in Moskau, Dmitri Peskow. Doch auch das ist falsch, wie die Vergangenheit gezeigt hat - sowohl in der Ukraine, als auch zum Beispiel in Syrien.
Russische Propaganda sehr vielfältig
Dass die russische Version im Netz und den sozialen Netzwerken dennoch eine weite Verbreitung findet, liegt nach Ansicht von Pichler an den vielfältigen Netzwerken der russischen Desinformation - von Trollfarmen bis hin zu prorussischen "Influencern". "Die notwendigen Narrative und Fake-News werden in Russland zielgruppengerecht entwickelt und dann über alle Kanäle gestreut, was im heutigen Informationsraum natürlich mit hoher Geschwindigkeit funktioniert."
Russland mache sich nach solchen Ereignissen zunutze, dass zunächst nicht viele Informationen bekannt seien, sagt Josef Holnburger, Co-Geschäftsführer bei CeMAS (Center für Monitoring, Analyse und Strategie). Ziel sei es, möglichst schnell viele andere Erzählungen zum Geschehen zu verbreiten, damit die ursprüngliche Version - in dem Fall der Angriff einer russischen Rakete - nur noch als eine mögliche Alternative von vielen erscheine.
"Viele Menschen sind kompromissorientiert, das bedeutet, sie denken, die Wahrheit liege vermutlich in der Mitte", so Holnburger. Genau darauf setze Russland mit der Strategie. So komme es, dass neben staatlichen Akteuren auch "nützliche Idioten" die russischen Narrative verbreiteten. "Einige machen das auch zum Schutz des eigenen Weltbilds. Überzeugte Anhänger von Russland könnten es nicht ertragen, sich einzugestehen, dass Russland hinter so einem Angriff stecken könnte."
"Maximale Dämonisierung der Ukraine"
So wurde von prorussischen Kanälen neben der Version einer ukrainischen Rakete unter anderem auch behauptet, dass die Helfer am Krankenhaus Schauspieler seien, zum Beispiel weil sie angeblich zu sauber angezogen seien oder das Blut an der falschen Stelle der Kleidung sei.
"Es geht um die maximale Dämonisierung der Ukraine, des Westens und der westlichen Medien in Verbindung mit einer möglichst großen Relativierung oder gar Rechtfertigung des russischen Angriffskrieges", so Pichler. Sobald genug Verwirrung gestiftet sei, bestehe auch die Möglichkeit, dass Menschen sich komplett von der Berichterstattung rund um die Ukraine abwenden, weil "man ohnehin niemandem mehr glauben kann".
Auch Politikerinnen und Politiker sollen dadurch beeinflusst werden, meint Pichler. "Organisiertes Trollen unter den Profilen von Politikerinnen und Politikern hat auch zum Ziel, diese soweit einzuschüchtern, dass sie aufgrund der negativen Resonanz gar nichts mehr zum Thema Russland und Ukraine sagen."