Vertrauensfrage im Bundestag Wenig Selbstkritik, viel Wahlkampf
Erst zum sechsten Mal stellte ein Bundeskanzler die Vertrauensfrage. Das historische Ereignis wurde aber überschattet von scharfen Angriffen. Ob Scholz, Merz, Habeck oder Lindner - die Redner gaben einen Vorgeschmack auf den Wahlkampf.
Alles wie immer, zumindest was Olaf Scholz‘ Auftritt im Plenarsaal angeht - wäre da nicht die Bedeutung dieser besonderen Sitzung. Auf der Besuchertribüne Britta Ernst, seine Ehefrau, und seine Eltern. Sind sonst die Familien bei der Vereidigung präsent, erleben sie nun das Ende eines Kanzlers, der kürzer im Amt war als seine SPD-Vorgänger. Kann man darauf stolz sein?
Scholz huscht fast unbemerkt in den Plenarsaal, steht etwas unbeholfen mit anderen Regierungsmitgliedern zusammen und wartet auf die Glocke, die die Ankunft der Bundestagspräsidentin ankündigt.
Die 205. Sitzung des 20. Deutschen Bundestages am 16. Dezember 2024. Ein Datum für die Geschichtsbücher. Zum sechsten Mal stellt ein Bundeskanzler die Vertrauensfrage. Mit dem Ziel, so Olaf Scholz, die Bundestagswahl vorzuziehen.
Und so kommt es zu der bedenkenswerten Situation, dass der Bundeskanzler will, dass ihm das Misstrauen ausgesprochen wird, aber nur von den Abgeordneten. In der Bevölkerung wirbt er darum, ihm weiter zu vertrauen, damit er auch in Zukunft regieren kann.
Scholz spricht Lindner "sittliche Reife" ab
Eine Bundestagssitzung für die Geschichtsbücher - das ja, aber nicht unbedingt eine Kanzlerrede, die wie eine Sternstunde wirkt. Scholz hält sich an sein Manuskript, erklärt sich, spricht an manchen Stellen beschwörend, hin und wieder gar verletzend kämpferisch - vor allem, als er seinem früheren Finanzminister die "sittliche Reife" fürs Regieren abspricht. Noch einmal rechtfertigt Scholz seine Entscheidung, Christian Lindner zu entlassen und damit die Ampelkoalition vorzeitig zu beenden.
Dann wechselt er inhaltlich in den Wahlkampfmodus und skizziert das, womit seine Partei in den Wahlkampf ziehen will. Der Begriff, der sich durch seine 30 Minuten lange Rede zieht, ist Respekt. Der Respekt vor "ganz normalen Leuten", denen, die um zehn, 20 Euro kämpfen müssen. Er will das in den Vordergrund stellen, was den Kern der SPD ausmachen soll: die sogenannten kleinen Leute, die Rentner, die lange gearbeitet haben, die Arbeiter, die mit dem Mindestlohn auskommen müssen.
Scholz verspricht einen höheren Mindestlohn, von 15 statt 12 Euro, sollten ihm die Menschen wieder das Vertrauen aussprechen, außerdem eine niedrigere Mehrwertsteuer auf Lebensmittel, nur noch fünf statt sieben Prozent, und eine sichere Rente. Wie das alles angesichts der erforderlichen hohen Ausgaben zum Beispiel für Verteidigung bei anhaltend schlechter Lage der Wirtschaft funktionieren soll, bleibt vage.
Merz springt Lindner gegen Scholz bei
Dass Scholz wiederholt von Respekt spricht, löst immer wieder Gelächter im Parlament aus, vor allem bei der Union. Deren Fraktionsvorsitzender Friedrich Merz springt dann auch für die FDP in die Bresche. Scholz‘ Angriffe gegen Lindner seien nicht nur respektlos, sondern eine "blanke Unverschämtheit".
Der Kanzler hält keine Rede, die die Abgeordneten von den Stühlen reißt, auch wenn die SPD "ihrem Olaf" lang anhaltend Beifall spendet. Alleine übrigens - selbst die noch mitregierenden Grünen klatschten nicht. Aber Scholz will das womöglich gar nicht: stattdessen wenig Emotionen, lieber als seriöser Sachwalter wirken, der so nur eines im Sinn haben kann, dass die Menschen außerhalb des Parlaments ihn als Stimme der Vernunft wahrnehmen.
Ob ihm das so gelingen kann? Ohne selbstkritische Töne, ohne eigene Fehler einzuräumen? Nur so viel: Er habe viel Kraft gebraucht für Kompromisse und eine Andeutung, dass Parteien, die den Grundkonsens der Demokratie ablehnen, durch die Neuwahlen gestärkt ins Parlament einziehen könnten. Am Ende ruft der längst geschwächte Bundeskanzler zur Zusammenarbeit auf, und man fragt sich, mit wem.
Habeck hätte lieber weitergemacht
Denn die anderen Redner machen deutlich, was alles nicht geht. Auf Scholz folgt Oppositionsführer Merz, dann für die Grünen Robert Habeck und für die FDP Christian Lindner. Allen ist gemein, dass ihre Reden deutlich fulminanter sind als die des Kanzlers, in großen Teilen frei vorgetragen, mit dem Vorteil, dass sie auf die jeweiligen Vorredner reagieren können.
Auch sie verwenden noch einmal eine gewisse Zeit auf die Aufarbeitung der gescheiterten Ampel, mit unterschiedlichem Zungenschlag - Habeck hätte trotz aller Schwierigkeiten lieber weitergemacht; Merz und Lindner sahen das Ende als unvermeidlich an. Aber auch ihnen geht es darum, die eigenen Schwerpunkte für den jetzt mit neuer Heftigkeit beginnenden Wahlkampf zu beschreiben.
Merz findet Scholz zum Fremdschämen
Merz hält Scholz vor, dass er nicht über Wettbewerbsfähigkeit gesprochen habe. Er wolle ihm ersparen, was europäische Regierungschefs in Abwesenheit über ihn reden würden. Scholz blamiere Deutschland. Es sei zum Fremdschämen. Er räumt ein, dass es nach der Wahl nicht einfach werde, sondern eine "Kraftanstrengung". Eine Absage an eine mögliche Koalition mit den Grünen, Schmusekurs mit der FDP. Aber wird das reichen, um eine neue Regierung zu bilden? "Sie haben Ihre Chance gehabt", ruft er Scholz zu, "Sie haben sie nicht genutzt".
Lindner gibt sich wieder als der Hüter der Schuldenbremse; Habeck als derjenige, mit dem Klima- und Umweltschutz nicht der Vergangenheit angehören sollen. Merz wirbt dafür hart in der Sache zu sein, aber im Wahlkampf zugleich sehr bemüht darum zu sein, sich in gegenseitigem Respekt zu begegnen. Man müsse zeigen, dass Demokratie in Deutschland funktioniere.
Wahlkampf nicht auf Höhe der Herausforderungen
Das ist vielleicht das, worauf sich die bisher regierenden Parteien und die größte Oppositionspartei am ehesten einigen können. Aber ein Wahlkampf auf der Höhe der Herausforderungen, vor denen Deutschland steht - der scheint zumindest an diesem Tag, der doch eigentlich ein historischer sein sollte, weit entfernt.
Auch weil sie alle - mehr oder weniger - die Debatte genutzt haben, um in einem ersten Aufschlag ihre Wahlprogramme vorzustellen, statt die Vertrauensfrage in den Mittelpunkt zu stellen. Einem Instrument, dem das Grundgesetz enge Grenzen gesetzt hat und das eigentlich nicht in Wahlkampfparolen untergehen sollte.
Nachdem Scholz die Vertrauensfrage verloren hatte, so wie erwartet, stellte er sich mehreren Fernsehinterviews. Er wirkte mit sich im Reinen. Auch im Interview mit Markus Preiß, Leiter des ARD-Hauptstadtstudios, antwortete er auf die Frage, ob seine Kanzlerschaft gescheitert sei, nur, dass der Streit vieles überlagert habe. Der Schaden für die Demokratie sei unübersehbar. "Natürlich ist das etwas, aus dem wir alle unsere Schlüsse ziehen müssen." Wohl das Maximum an Selbstkritik eines Kanzlers auf Abruf.