Einsätze in Ausnahmesituationen Wenn Polizisten auf psychisch Kranke schießen
Seit 2019 haben Polizisten in Deutschland 37 Menschen in offenbar psychischen Krisen erschossen. Die Beamten brauchen eine bessere Vorbereitung auf solche Situationen, sagen Experten. Doch es fehlt oft Geld und Personal.
"Es tut mir leid, Ihr Sohn ist tot." Diesen Satz hören Katrina und David O. am Telefon. Ihr Sohn Oisín wurde am 22. Mai 2019 von der Polizei in seinem Haus in Hamburg erschossen. Auch wenn es schon mehr als fünf Jahre her ist, die Eltern stellen sich immer wieder die Frage, warum ihr Sohn auf diese Weise sterben musste.
Oisín ist gerade Vater geworden. Doch es gibt Komplikationen bei der Geburt, das Kind muss auf die Intensivstation. Oisín bekommt einen Hautausschlag vom Desinfektionsmittel und fühlt sich im Krankenhaus nicht gut behandelt. Er wird immer misstrauischer und glaubt, seine Familie beschützen zu müssen. Fachleute werden später sagen, dass dies möglicherweise erste Anzeichen einer Psychose waren.
Auch zuhause beginnt er, sich immer merkwürdiger zu verhalten. Er habe alle Spiegel abgedeckt, überall im Haus Messer verteilt, er habe das Böse erwartet, erzählt seine Frau. Sie will ärztliche Hilfe für ihn und ruft die 112.
Doch weil sie auch von den Messern berichtet, wird sie an die Polizei weitergeleitet. Auch hier bittet sie um einen Arzt. Doch die hört offenbar nur von der Bedrohung mit dem Messer und so rücken zehn Polizisten und Polizistinnen an. Weil die Haustür verbarrikadiert ist, verschafft sich die Polizei Zutritt zum Haus.
Hätte der Einsatz anders geplant werden können?
Ob der psychische Zustand von Oisín überhaupt Thema vor dem Einsatz war, beantworten die Hamburger Polizei und Innenbehörde auf Nachfrage nicht. Auch nicht, ob es Überlegungen gab, eine psychiatrische Fachkraft mit zum Einsatzort zu schicken. Oisín, bekleidet nur in Unterhose und Socken, trug einen selbstgebastelten Lendenschurz. Daraus hervor ragt ein langer schwarzer Griff, den die Polizei als Messer erkennt. Später kommt heraus, dass es ein Pfannenwender war.
Auf dem Kopf soll Oisín einen Kochtopf getragen haben. Auf lautes Rufen und auf Pfefferspray habe der 34-Jährige nicht reagiert. Er sei plötzlich mit einem Messer in der Hand auf zwei Polizisten zugelaufen. Später können sich daran nicht alle erinnern. Fünf Schüsse treffen ihn - unter anderem an Lunge und Herz.
Hätte der Einsatz auch anders geplant werden können oder gar müssen? Um strukturelle Veränderungen vorzunehmen, bräuchte es empirische Daten. Doch wie häufig Polizisten auf Menschen in psychischen Krisen schießen, wird von den deutschen Behörden nicht erfasst.
Keine einheitlichen Fortbildungsstandards
Der Verein "Institut für Bürgerrechte und öffentliche Sicherheit" sammelt öffentlich zugängliche Daten. Demnach sind seit 2019, seit Oisín erschossen wurde, in Deutschland 36 weitere Menschen in offenbar psychischen Krisen von Polizisten erschossen worden. Insgesamt befand sich fast die Hälfte aller von der Polizei erschossenen Menschen offenbar in einer psychischen Krise.
Wie wird die Polizei auf solche Einsätze vorbereitet? Wird sie ausreichend geschult und fortgebildet? Eine bundesweite Abfrage ergibt, dass es keine einheitlichen Fortbildungsstandards gibt. Nur drei Bundesländer geben an, dass eine Fortbildung speziell im Umgang mit Menschen in psychischen Krisen für alle Beamtinnen und Beamten verpflichtend ist.
In Hamburg muss ein Teil der Beamtinnen und Beamten eine solche Fortbildung besuchen, die dann ihr Wissen in die Truppe tragen sollen. Kriminologen finden das nicht ausreichend. Rafael Behr, ehemaliger Ausbilder an der Akademie der Polizei Hamburg, sagt, er plädiere schon länger dafür, "dass einzelne Beamte und Beamtinnen, die vielleicht auch ein Talent dafür haben, sechs bis neun Monate in einer psychiatrischen Einrichtung zu hospitieren" und so mitzuerleben, wie das Personal mit diesen Menschen umgehe.
Es scheitert an Geld und Personal
Das Problembewusstsein sei da, sagt Lars Osburg, stellvertretender Landesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP) Hamburg. Aber auch er würde sich wünschen, "dass wir auch mal Leute aus dem Dienst rausnehmen können für Fortbildungsmaßnahmen. Allein dafür reicht das Personal im Alltag absolut nicht aus." Auch die Unterstützung durch Fachpersonal scheitere zumeist an Geld und Personal.
Handlungsweisen und Ausstattungen zu verändern ist in Deutschland auch deshalb nur schwer möglich, weil die juristische Aufarbeitung zumeist kein Fehlverhalten erkennt. Der Kriminologe Tobias Singelnstein von der Universität Frankfurt hat festgestellt, dass etwa 97 Prozent aller Ermittlungsverfahren gegen Polizeibeamtinnen und -beamte eingestellt werden.
"Der Staat wird sich immer schwer damit zu tun, seine eigenen Amtsträgerinnen und Amtsträger zu verfolgen", so Singelnstein. "Und die Polizei als Organisation und als Behörde wird immer auch Möglichkeiten haben, sich in diesen Aufarbeitungsprozessen Vorteile zu verschaffen. Deshalb wäre es, glaube ich, schon wichtig, dass wir eine Stelle außerhalb der Polizei und außerhalb der klassischen Justizbehörden haben, die für solche Verfahren zuständig ist, die in besonderer Weise unabhängig ist."
Klage vor dem Gerichtshof für Menschenrechte
Im Fall von Oisín hat die Staatsanwaltschaft und auch die Generalstaatsanwaltschaft lange geprüft. Die beiden Schützen verweigerten die Aussage - das ist ihr gutes Recht. Wie genau der Einsatz in Oisíns Haus damals abgelaufen ist, konnte daher nicht festgestellt werden. Der Hergang ergab sich aus Indizien. Mit dem Ergebnis, dass die Polizisten in Notwehr gehandelt haben. Das Ermittlungsverfahren wurde eingestellt.
Die Eltern von Oisín können das nicht akzeptieren. Sie haben den Eindruck, vieles sei vertuscht worden. Sie wären gerne vor Gericht gehört worden. Katrina und David O. haben deshalb Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingereicht. Der prüft nun ihren Fall. Ein Urteil wäre bindend und könnte etwa dazu führen, dass solche Fälle in Deutschland zukünftig unabhängiger behandelt werden müssten.
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