Eine Apotheken-Schublade mit Antibiotika für Kinder
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Arzneimittelengpässe Was Lauterbach gegen den Mangel plant

Stand: 24.05.2023 11:05 Uhr

Fehlende Arzneimittel für Kinder haben Eltern, Ärzte und Politik aufgeschreckt. Gesundheitsminister Lauterbach legte ein Rezept gegen den Mangel vor - heute berät der Bundestag über den Gesetzentwurf. Was steht drin?

Von Nadine Bader, ARD-Hauptstadtstudio

Die Ausgangslage

Europaweit fehlt es an Medikamenten für Kinder. Ende des vergangenen Jahres war die Versorgungslücke vor allem bei Fiebersäften gravierend. Kinder- und Jugendärzte in Deutschland schlugen Alarm - und setzten Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach unter Druck.

Es folgte ein hektisch verfasstes Eckpunktepapier zu Arzneimittelengpässen. Der Minister hat seine Pläne in einem Gesetzentwurf konkretisiert, der im April vom Bundeskabinett gebilligt wurde. Heute berät der Bundestag in erster Lesung über den Gesetzentwurf.

Seit Ende April ist der Versorgungsmangel mit Antibiotikasäften für Kinder in Deutschland sogar offiziell: Das Bundesgesundheitsministerium hatte im Bundesanzeiger, der amtlichen Verkündungsplattform der Bundesrepublik, bekanntgegeben, dass derzeit ein solcher Versorgungsmangel bestehe. Das heißt, bestimmte Wirkstoffe sind zurzeit nicht lieferbar.

Nadine Bader, ARD Berlin, über die Beratungen im Bundestag gegen Medikamentenmangel

24.05.2023 19:00 Uhr

Wie groß ist der Mangel?

Wer mit Apothekern spricht, bekommt Aussagen wie "akuter Mangel", der sich durch alle Segmente ziehe, zu hören. Auch Kinder- und Jugendärzte schlagen Alarm. In einem Brandbrief warnte der Berufsverband Ende April, es fehle an kindgerechten Fieber- und Schmerzmedikamenten.

Dass das Problem in den vergangenen Jahren zugenommen hat, zeigt sich auch in Zahlen. Seit 2013 melden Pharmaunternehmen freiwillig Lieferengpässe an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Während es 2013 insgesamt 42 Engpassmeldungen gab, lag die Zahl 2022 bei 666 Meldungen für die insgesamt rund 100.000 zugelassenen Arzneimittel in Deutschland.

Aktuell sind 491 Medikamente nicht erhältlich (Stand 24. Mai 2023). Das BfArM verweist aber darauf, dass ein direkter Vergleich der Zahlen nur mit gewissen Einschränkungen vorgenommen werden könne. Unter anderem, weil die Kriterien zur Meldung von Lieferengpässen sich über die Jahre verändert hätten und sich das Meldeverhalten der Pharmaindustrie verbessert habe. Forderungen nach einer Meldepflicht konnten sich allerdings bisher nicht durchsetzen.

Wie sieht das Gesundheitsministerium die Lage?

Das Bundesgesundheitsministerium sieht die bedarfsgerechte Versorgung insbesondere bei lebenswichtigen Arzneimitteln zur Behandlung von Krebserkrankungen und bei Antibiotika gefährdet. Das Ministerium weist aber darauf hin, dass die betroffenen Arzneimittel sich bei Lieferengpässen zum großen Teil durch ähnliche Präparate ersetzen lassen würden, sodass die Versorgung der Patientinnen und Patienten weiterhin möglich sei. Für die Apotheken ist das mitunter jedoch mit großem Aufwand verbunden. Und die Ersatzpräparate sind nicht immer die Mittel, auf die die Patienten eingestellt sind und die sie am besten vertragen.

Gibt es immer die Möglichkeit, Arzneimittel zu ersetzen?

Nein. Kritischer als ein Engpass ist die Feststellung eines Versorgungsmangels. Das bedeute, dass in der Versorgung für das betreffende Präparat oftmals keine alternative gleichwertige Arzneimitteltherapie zur Verfügung stehe, sagt die Pharmaexpertin Jasmina Kirchhoff vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW).

Im Jahr 2022 gab es einen solchen Mangel beim Brustkrebs-Medikament Tamoxifen. Im April hat das Gesundheitsministerium einen Versorgungsmangel bei antibiotikahaltigen Säften für Kinder bekanntgemacht. Sie werden etwa für die Behandlung von Streptokokken-Infektionen, Ohren- und Lungenentzündungen benötigt. Dadurch, dass zuletzt auch verstärkt Kinderarzneimittel gefehlt hätten, habe die Sensibilität in der Öffentlichkeit für das Thema mit Sicherheit zugenommen, sagt Kirchhoff.

Was sind Ursachen für die Lieferengpässe?

Die Ursachen sind vielfältig. Dazu gehört ein starker Kostendruck bei der Herstellung patentfreier Arzneimittel, der zu einer weitgehenden Verlagerung der Produktion nach China und Indien geführt hat. Die Konzentration auf wenige Produktionsorte und mögliche Qualitätsprobleme bei der Produktion führen zu weitergehenden Lieferunsicherheiten. Plötzliche starke Nachfragesteigerungen können das Problem akut verschärfen. Zum Beispiel, als Kinder vergangenen Winter reihenweise mit Infekten zu kämpfen hatten und Fiebersäfte knapp wurden.

Woher kommt der Kostendruck bei Arzneimitteln?

Der starke Kostendruck auf Hersteller von patentfreien Arzneimitteln, sogenannte Generika, ist hausgemacht. Denn im Gesundheitssystem wurden Instrumente verankert, um die Ausgaben der Krankenkassen für Medikamente zu begrenzen, zum Beispiel durch Festbeträge. Das sind Höchstbeträge, die für die Erstattung von bestimmten Arzneimitteln festgelegt werden. Dieses Instrument wurde 1989 unter Federführung des damaligen Bundesarbeits- und Sozialministers Norbert Blüm (CDU) mit dem Gesundheitsreformgesetz eingeführt.

Seit 2003 können Krankenkassen zudem Rabattvereinbarungen über Arzneimittel mit Pharmaunternehmen abschließen. Es erhalten also die Anbieter den Zuschlag, die den günstigsten Preis bieten. Geregelt wurde das im Beitragssatzsicherungsgesetz, das von der damaligen Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) eingeführt wurde.

Seit 2007 sind Apotheker zudem verpflichtet, gegen ein eingereichtes Rezept genau das wirkstoffgleiche Präparat herauszugeben, für das die Krankenkasse des Patienten einen Rabattvertrag abgeschlossen hat. Die Einsparungen für das Gesundheitssystem belaufen sich auf mehrere Milliarden Euro pro Jahr. 

Wie will Lauterbach gegensteuern?

Zum einen mit kurzfristigen Notfallmaßnahmen. So machte Lauterbachs Ministerium im April einen Versorgungsmangel bei antibiotikahaltigen Säften für Kinder bekannt. Dadurch können Landesbehörden flexibler auf Engpässe reagieren. Sie können zum Beispiel den Import von in Deutschland nicht zugelassenen Antibiotika-Säften für Kinder erleichtern, also auch Chargen in fremdsprachiger Aufmachung und ohne herkömmlichen Beipackzettel auf Deutsch.

Das sei eine Maßnahme, die aber keine schnelle Besserung zur Folge haben werde, sagt Pharmaexpertin Kirchhoff. Die Idee sei zwar gut, aber gerade bei Antibiotika für Kinder hätten nahezu alle Länder in Europa mit Engpässen zu kämpfen. Es bestehe also wenig Anreiz, Antibiotika nach Deutschland zu verkaufen.

Mit seinem Gesetzentwurf will Lauterbach deshalb nachhaltiger gegensteuern. Der Kostendruck bei der Produktion von Antibiotika soll verringert und die Produktion so zurück in die EU verlagert werden. Deshalb sollen Krankenkassen Firmen mit Wirkstoffproduktion in der EU künftig bei Ausschreibungen stärker berücksichtigen. Ergänzend zur Vergabe nach dem günstigsten Preis sollen sie einen Zuschlag nach dem Kriterium Wirkstoffproduktion in der EU vergeben.

In einem vorhergehenden Entwurf waren für diese Regelung auch Krebsmedikamente vorgesehen, die in der aktuellen Fassung jedoch wieder gestrichen wurden. Das System könnte aber zu einem späteren Zeitpunkt auch auf andere Arzneimittelgruppen, etwa Krebsmedikamente, ausgeweitet werden, sagt Lauterbach.

Was ist mit Arzneimitteln für Kinder?

Auch diese hat Lauterbach besonders im Blick. Für sie sollen die Preisregeln gelockert und Festbeträge und Rabattverträge abgeschafft werden. Pharmazeutische Unternehmen können ihre Abgabepreise für Kinderarzneimittel demnach einmalig um bis zu 50 Prozent des zuletzt geltenden Festbetrages anheben. Eine solche Regelung soll auch gelten, wenn bei bestimmten Medikamenten eine Marktverengung festgestellt wird. Das heißt: Sollte es zu wenig Anbieter geben, können Festbetrag oder Preismoratorium einmalig um 50 Prozent angehoben werden.

Was sieht der Gesetzentwurf noch vor?

Die Lagerhaltung soll auch ausgeweitet werden. Für bestimmte Arzneimittel soll eine mehrmonatige Lagerhaltung verbindlich werden. Und für Krankenhausapotheken und krankenhausversorgende Apotheken sollen die Bevorratungsverpflichtungen verschärft werden, etwa für Antibiotika zur intensivmedizinischen Versorgung. Um zukünftig frühzeitig Lieferengpässe zu erkennen, soll das BfArM ein Frühwarnsystem einrichten, das drohende versorgungsrelevante Lieferengpässe bei Arzneimitteln identifiziert. Dafür soll das Bundesinstitut weitergehende Informationsrechte gegenüber Herstellern und Krankenhausapotheken erhalten. 

Für Apotheken will Lauterbach die Austauschregeln für Medikamente erleichtern. Sie sollen künftig Medikamente, die nicht innerhalb einer angemessenen Zeit lieferbar sind, gegen ein verfügbares, wirkstoffgleiches Präparat austauschen dürfen. Für den Austausch sollen Apotheken einen Zuschlag erhalten.

Wie erfolgversprechend sind die geplanten Maßnahmen?

Experten sind sich weitgehend einig, dass Handlungsbedarf besteht und die Maßnahmen zumindest ein Anfang sind. Den Kostendruck auf Generika zu senken, sei auf jeden Fall eine gute Idee, sagt Pharmaexpertin Kirchhoff. Sie spricht von einem "ruinösen Preiskampf bei generischen Arzneimitteln". Ein Umdenken sei hier schon lange überfällig.

Dass es bei einigen Rabattverträgen nun nicht mehr nur um den geringsten Preis gehen soll, sondern auch die im Standortvergleich teureren europäischen Produktionen zum Zug kommen und bei Kinderarzneimitteln Festbetragsgruppen aufgelöst und Rabattverträge abgeschafft werden sollen, sei ein erster Schritt in die richtige Richtung, sagt Kirchhoff.

Eine schnelle Verbesserung der Situation und eine zeitnahe Rückverlagerung der Produktion in die EU ist dadurch aber wohl nicht zu erwarten. "Wir werden das bei weitem nicht schaffen, für jedes Arzneimittel einen europäischen Hersteller zu finden", sagt Pharmazie-Professorin Ulrike Holzgrabe. Die Entwicklung, alles in China zu kaufen, laufe seit Jahren. Das lasse sich auch "nicht so ad hoc zurückdrehen". Die Professorin rechnet mit einem Zeithorizont von mindestens zehn Jahren, um die Rückverlagerung in Gang zu setzen.

Auch Arzneiexperte Wolfgang Becker-Brüser, Herausgeber der unabhängigen Fachzeitschrift Arznei-Telegramm, ist skeptisch. Die Produktion in Europa sei in großen Bereichen eingedampft worden. Eine Rückverlagerung gehe nicht kurzfristig.

Fragezeichen hinterlässt auch die teils vage Formulierung im GesetzentwurfSo ist beispielsweise davon die Rede, dass die Rabattverträge von den Krankenkassen so ausgeschrieben werden sollen, dass auch Hersteller berücksichtigt werden "sollen", die den entsprechenden Wirkstoff in Europa produzieren. Von "müssen" stehe da nichts, kritisiert Becker-Brüser. Das sei im Prinzip nur eine Willenserklärung und keine Handlungsanweisung.

Welche Kritik gibt es?

Ein wesentlicher Kritikpunkt bezieht sich darauf, dass Lauterbach sich bei der Diversifizierung der Lieferketten auf nur eine Arzneimittelgruppe fokussiert: Antibiotika. In einem vorhergehenden Entwurf waren auch Arzneien gegen Krebs enthalten. Aus Sicht von Bork Bretthauer vom Branchenverband Pro Generika ist diese Fokussierung nicht nachvollziehbar. Dieses Gesetz werde das Engpassproblem nicht lösen, sagt Bretthauer.

Ähnlich sieht das Arzneiexperte Becker-Brüser. Es handele sich um ein grundlegendes Problem. Zum Beispiel auch bei Schmerzmitteln, Blutdrucksenkern und vielen anderen Arzneimitteln. Um die Situation grundlegend zu verbessern, wäre es nötig, dass zumindest wesentliche Arzneimittel wieder in Europa produziert würden, sagt Becker-Brüser. Auch Pharmaexpertin Kirchhoff kritisiert, den Spardruck nur für einzelne Bereiche zu lockern, werde nicht genügen, um grundlegende Mängel in der Versorgung und Engpässe zu lösen.

Als Problem sieht Kirchhoff außerdem, dass bei einer festgestellten Marktverengung die Festpreise zwar angehoben werden dürfen. Diese Ausnahmeregelung soll aber auf mindestens zwei Jahre begrenzt sein. Danach soll das Medikament wieder in das Festbetragssystem überführt werden. Zwei Jahre seien keine ausreichende zeitliche Perspektive für ein Unternehmen, um Produktion in der EU aufzubauen, so Kirchhoff.

Zudem reiche die Stärkung des Produktionsstandorts Europa nicht aus. Es müssten auch Hersteller belohnt werden, die ihre Lieferketten breit genug aufstellen, also in zusätzliche Zulieferer oder Produktionsstandorte investieren, um Liefersicherheit garantieren zu können. Dafür sei es aus ökonomischer Sicht weniger relevant, wo die Zulieferer und Produktionsstandorte seien, sondern wie viele und wie gut verteilt diese auf dem globalen Markt seien, sagt Kirchhoff.

Wer soll die steigenden Kosten tragen?

Lauterbach rechnet mit Mehrkosten im Umfang eines "mittleren dreistelligen Millionenbetrags". Eine präzisere Einschätzung sei noch nicht möglich. Der Branchenverband Pro Generika hat verschiedene Szenarien durchrechnen lassen: Zum Beispiel, wenn ein Arzneimittelhersteller einen Wirkstoff künftig aus einer europäischen Quelle bezieht. Dann sei von einer Anfangsinvestition von bis zu 250.000 Euro auszugehen. Der Aufbau einer eigenen Produktionsstätte für einen Wirkstoff in Europa sei mit Anschubinvestitionen von bis zu 250 Millionen Euro verbunden. Dazu kämen höhere Herstellkosten im laufenden Betrieb.

Arzneimittel machen nach Krankenhausbehandlungen und ärztlichen Behandlungen jetzt schon einen wesentlichen Ausgabenposten der Krankenkassen aus. Die Kosten steigen seit Jahren an, zuletzt auf knapp 49 Milliarden Euro im vergangenen Jahr. Doch nur ein kleiner Teil davon entfällt auf Generika, obwohl der Verordnungsanteil von Generika am gesamten Arzneimittelmarkt bei etwa 80 Prozent liegt.

Die "relevanten Kostentreiber" seien also die patentgeschützten Arzneimittel, sagt Arzneiexperte Becker-Brüser. Die Politik tut sich allerdings schwer, hier regulierend einzugreifen. Schnell kommt dann das Argument, dass Firmen sich ansonsten aus der Forschung an neuen Arzneimitteln in Deutschland zurückziehen könnten.

Einen Hebel sieht Becker-Brüser aber doch: Er empfiehlt, die Unternehmen zum Beispiel zu verpflichten, dass sie die tatsächlich entstandenen Kosten für Forschung und Entwicklung nachvollziehbar deklarieren und transparent machen müssen. In jedem Fall müsste man aber auch für die Rückverlagerung der Generika-Herstellung mehrere Milliarden Euro in die Hand nehmen.

Wohl auch deshalb sehen die Krankenkassen, die das Geld der Beitragszahler beisammenhalten wollen, Lauterbachs Pläne kritisch. Stefanie Stoff-Ahnis vom Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV-Spitzenverband) spricht in Bezug auf Rabattverträge und Festbeträge von bewährten Instrumenten, die die Beitragszahler jedes Jahr vor zusätzlichen Kosten in Milliardenhöhe schützten. Wenn diese Mechanismen einfach ausgehebelt würden, stiegen die Kosten für Beitragszahlende.

Teurer dürfte es künftig also in jedem Fall werden und die Ausgaben im Gesundheitssystem weiter steigen. Pharmaexpertin Kirchhoff plädiert dafür, das System zukunftssicher aufzustellen. Jedes Jahr zu schauen, wie man das finanzielle Loch in der gesetzlichen Krankenversicherung notdürftig stopfe, sei keine Strategie.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete BR24 am 24. Mai 2023 um 10:41 Uhr.