Eine Migrantin und ihre zwei Kinder gehen über das Gelände der Zentralen Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber (ZABH) des Landes Brandenburg.
interview

Debatte über Asylpolitik "Das würde zu politischen Turbulenzen führen"

Stand: 10.09.2024 15:52 Uhr

Sollte es zu Zurückweisungen an den Grenzen kommen, würden Menschen ziellos durch Europa wandern, sagt Migrationsforscher Vorländer. Er rät der Bundesregierung, Lösungen mit EU-Partnern zu suchen - und sich verstärkt um Integration zu kümmern.

tagesschau.de: Heute ist ein erneutes Treffen zum Thema Asyl angesetzt. Die Bundesregierung hat schon ein Sicherheitspaket in die Wege geleitet, mit verschiedensten Maßnahmen. Wie sehen Sie diese Maßnahmen?

Hans Vorländer: Die sind natürlich auch auf Druck der CDU und von CDU-Chef Friedrich Merz sehr schnell beschlossen worden. Die Bundesregierung musste Handlungsfähigkeit unterstreichen. Und in diesem Sinne sind diese Maßnahmen politisch einzuordnen.

tagesschau.de: Die Unionsparteien haben unter anderem Zurückweisungen an der deutschen Grenze zur Bedingung für ihre Unterstützung gemacht. Sind Zurückweisungen überhaupt umsetzbar?

Vorländer: Die entscheidenden Fragen werden sein: Wer wird denn eigentlich zurückgewiesen? Sind es Menschen, die irregulär einreisen wollen, weil sie kein Visum haben? Oder sind es Menschen, die früher schon ein Einreiseverbot erhalten haben? Oder geht es hier generell darum, dass in Deutschland keiner mehr einen Asylantrag stellen kann?

Letzteres würde eindeutig sowohl gegen das EU-Recht als auch das deutsche Recht verstoßen und dürfte an den deutschen Grenzen so nicht praktiziert werden. Problematisch sind die Dublin-III-Fälle - also Personen, die schon in einem anderen Land der Europäischen Union ein Asylbegehren artikuliert haben.

Nach der Dublin III genannten EU-Verordnung müssten sie in Deutschland zunächst aufgenommen werden. Aber sie müssten dann anschließend, wenn sich herausstellt, dass sie woanders schon einen Asylantrag gestellt haben, zurück übernommen werden von dem europäischen Land, das sie zuerst betreten beziehungsweise in dem sie zuerst einen Antrag gestellt haben. Und das ist zwingendes Recht der Europäischen Union, das nicht einfach zu hintergehen oder zu unterlaufen ist.

Hans Vorländer
Zur Person

Hans Vorländer ist Direktor des Zentrums für Verfassungs- und Demokratieforschung (ZVD) an der TU Dresden und Direktor des Mercator Forum Migration und Demokratie (MIDEM). Aktuell ist er Vorsitzender des Sachverständigenrats für Integration und Migration, der die Bundesregierung berät. Zu seinen Arbeitsbereichen zählen Konstitutionalismus und Verfassung, Demokratie, Populismus sowie Migration und Integration.

"Erhebliche politische Turbulenzen" möglich

tagesschau.de: In der politischen Debatte vermischen sich die Argumente. Es ist zum Teil auch zu hören, dass man laut Dublin III eigentlich alle an der Grenze abweisen könnte. Das ist aber nicht möglich?

Vorländer: Das geht aus menschenrechtlichen, völkerrechtlichen und auch asylrechtlichen Gründen nicht. Die Tatsache, dass andere Staaten sich nicht an die Dublin-III-Verordnung halten, ist noch lange kein Grund, warum Deutschland sich genauso verhalten sollte.

Wer das tut und das EU-Recht so massiv infrage stellt und unterläuft, legt die Axt an die Europäische Union und das Gemeinsame Europäische Asylsystem, das bis 2026 in der neuen Reformvariante implementiert werden soll.

tagesschau.de: Österreich hat angekündigt, dass es gar keine Asylsuchenden von der deutschen Grenze zurücknehmen würde. Funktioniert diese Maßnahme?

Vorländer: Das ist genau das politische Problem, das dadurch entsteht, wenn tatsächlich zurückgewiesen würde. Würde Deutschland niemanden mehr aufnehmen, gäbe es natürlich einen Rückstau in den anderen ost- und mitteleuropäischen Ländern. Und das würde zu erheblichen politischen Turbulenzen führen.

Die Menschen würden ziellos durch die Länder Europas wandern, müssten wo auch immer Asylanträge stellen. Und die Frage ist, wie man dann überhaupt noch zu einer gemeinsamen europäischen Asylmaßnahme kommt, die ja verabredet ist und jetzt Schritt für Schritt implementiert wird.

Hans Vorländer, Sachverständigenrat für Integration und Migration, zu den Beratungen über die Ayslpolitik

tagesschau24, 10.09.2024 10:00 Uhr

"Nur mit den europäischen Partnern zusammen"

tagesschau.de: Die Argumentation der Unionsparteien ist, dass es dann einen Dominoeffekt geben würde und alle EU-Länder ihre Grenzen besser schützen würden. Ist das realistisch?

Vorländer: Zunächst einmal sind die Menschen da und würden hin- und hergereicht werden. Wir bekämen viele Fälle von Schleusung oder irregulären Grenzübertritten, weil die Menschen dann tatsächlich ohne Perspektive und ohne entsprechende Möglichkeit sind, ihren Asylantrag prüfen zu lassen, wenn die anderen Staaten sich auch weigern, Asylverfahren durchzuführen.

tagesschau.de: Ein Grund, warum Deutschland aktuell Menschen aufnimmt und Asylverfahren durchführt, ist auch, überlastete Aufnahmeländer an den EU-Außengrenzen zu entlasten. Würden die neuen Maßnahmen bedeuten, dass zum Beispiel Italien und Griechenland wieder mehr belastet werden?

Vorländer: Die ursprüngliche Idee von Dublin III und auch Artikel 16a des Grundgesetzes ist, dass die Länder, in denen Menschen zum ersten Mal einen Asylantrag stellen, tatsächlich auch das Aufnahmeverfahren durchführen. Das ist aber in den vergangenen Jahren, eigentlich schon seit 2015 und 2016, nicht mehr überall die Regel. Das hat die Sekundärmigration in Europa verstärkt.

Die Reform des GEAS, des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, versucht hier eine Neuordnung. An den Außengrenzen der EU sollen Verfahren durchgeführt werden. Insofern wäre es sinnvoll, auf eine Umsetzung des neuen GEAS-Reformmodells zu bestehen. Und das kann man nur mit den europäischen Partnern zusammen.

"Die Zahl steigt im Augenblick nicht"

tagesschau.de: Es wird immer mal wieder ins Spiel gebracht, dass Deutschland eine nationale Notlage erklären könnte, um EU-Recht zu umgehen. Sehen Sie dafür aktuell einen Anlass?

Vorländer: Nein, die Lage ist ja im Augenblick nicht neu. Zwar gibt es islamistisch geprägte Attentate, aber die hat es ja auch vorher schon gegeben. Und die nationale Notlage, die man nach Artikel 72 des Arbeitsvertrags über die Verfahrensweise der Europäischen Union ausrufen kann, muss natürlich der EU-Kommission angezeigt werden und schlüssig begründet werden.

Dann könnte man solche Maßnahmen ergreifen, die aber vor allen Dingen mit einer erhöhten Zuwanderungszahl von Asylsuchenden zu begründen wären, um die Grenzen streng zu kontrollieren. Die Zahl steigt aber im Augenblick nicht, sie nimmt ja eher ab. Und die Argumentation, dass es ein erhöhtes Sicherheitsrisiko gibt, muss untermauert werden.

Trotz der Zahl von Messerattacken und der Tat in Solingen ist die innere Sicherheit nach Verständnis vieler nicht so fundamental gefährdet, dass man eine nationale Notlage begründen könnte.

"Der Kontext der Wahl ist ganz offensichtlich"

tagesschau.de: Zugespitzt gefragt: Ist das Thema Asyl aktuell wirklich so wichtig? Oder treibt die AfD damit die anderen Parteien vor sich her?

Vorländer: In diesem Fall sind es ja die Union und Merz. Und der Kontext der Wahl ist ja auch ganz offensichtlich. Natürlich gibt es Belastungen der Kommunen. Das sagen der Landkreistag und der Städte- und Gemeindebund.

Natürlich haben wir sehr umständliche, komplexe, bürokratische Verfahren, um Menschen auch in den Arbeitsmarkt hinein zu bekommen, obwohl die Bilanz letztlich gar nicht so schlecht aussieht.

Das heißt, wir haben konkrete Probleme der Umsetzung. Aber man sollte sich diesen Problemen in einer versachlichenden Art und Weise zuwenden und versuchen, sie zu lösen, ohne große Angstszenarien zu schüren, die mit solchen sehr aktionistischen Maßnahmen immer verbunden sind.

"Rückwirkungen auf andere Politkbereiche"

tagesschau.de: Was halten Sie von den Grenzkontrollen, die jetzt noch breitflächiger eingeführt werden sollen?

Vorländer: Wer stationäre Grenzkontrollen auf Dauer errichtet, stellt den Schengenraum sehr stark in Frage. Das hat auch Rückwirkungen - nicht nur auf die Belastung der Polizei, sondern auch auf die Freizügigkeit des Grenzverkehrs, auf logistische Fragen. Die Industrie wird sich sicherlich nicht darüber freuen, dass ihre Lkw so lange an den Grenzen stehen müssen.

Das heißt, wir haben hier auch große Belastungen, womöglich für die Freizügigkeit innerhalb des Binnenmarktes und den freien Grenzverkehr. Das hat Rückwirkungen auf andere Politikbereiche, die man mitbedenken muss.

Und ein letzter Punkt: Es gibt die Gefahr, dass wir uns in Europa noch weiter renationalisieren. Und das ist für die Asylproblematik, aber auch für den Wirtschaftsraum Europas kontraproduktiv. Gerade angesichts der geopolitischen Herausforderungen.

tagesschau.de: Sie sind Vorsitzender des Sachverständigenrats für Integration und Migration, der heute tagt. Was würden Sie der Bundesregierung empfehlen?

Vorländer: Ich würde der Bundesregierung empfehlen, dass sie die Maßnahmen, die sie ja ohnehin schon in den vergangenen zwei Jahren beschlossen hat, zügig umsetzt. Dass sie versucht, den Prozess der Integration in Arbeitsmarkt, Wohnungsmarkt, Bildung, Schule zu verstärken und effizient umzusetzen. Und ich würde ihr raten, dass sie mit den europäischen Partnern nach wie vor versucht, eine gemeinsame Lösung zu finden, und das tatsächlich implementiert, was die GEAS-Reform vorsieht.

Das Gespräch führte Belinda Grasnick, tagesschau.de.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 10. September 2024 um 10:00 Uhr.