Polizeibeamte bringen einen Afghanen auf dem Flughafen Leipzig-Halle in ein Charterflugzeug.
analyse

Asylpolitik in Deutschland Urteil lässt wenig Raum für Zurückweisungen

Stand: 15.10.2024 18:10 Uhr

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die schnelle Abschiebung eines Syrers nach Griechenland für rechtswidrig befunden. Das Urteil ist auch für die aktuelle Asyldebatte in Deutschland relevant.

Von Max Bauer und Philip Raillon, ARD-Rechtsredaktion

Als Haitham T. im September 2018 an die österreichisch-deutsche Grenze kam, wurde er von der Bundespolizei gestoppt. Der Syrer wollte nach Deutschland, wo sein Bruder schon seit einigen Jahren lebte. Die Beamten hätten ihn befragt sowie ihm einen Anwalt und ein Telefonat angeboten. Den Anwalt lehnte er zunächst ab, bei seinem Anruf ging niemand dran. Das waren quasi seine einzigen Erlebnisse in Deutschland. Denn nur wenige Stunden später war der Aufenthalt von Haitham T. schon vorbei. Die Behörden setzten ihn in ein Flugzeug nach Griechenland, wo er zuerst EU-Boden betreten hatte. "Ich war schockiert", sagt der heute 31-Jährige.

Hinter diesem Rückflug binnen weniger Stunden steckte der sogenannte "Seehofer-Deal". Bereits 2018 hatte der damalige Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) das Thema Zurückweisungen von Geflüchteten auf die Agenda gesetzt. Der Inhalt des Abkommens: Geflüchtete, die von der Bundespolizei aufgegriffen wurden, sollten innerhalb von 48 Stunden ohne ein Asylverfahren nach Griechenland zurückgeschickt werden.

Seehofer wollte Dublin-Regeln umgehen

Eigentlich sehen die Dublin-Regeln der Europäischen Union zumindest eine Prüfung in Deutschland vor, wenn der Geflüchtete an der deutschen Grenze Asyl beantragt. Das wollte Seehofer umgehen. In verwaltungsgerichtlichen Verfahren wurden in den Folgejahren Abschiebungen nach Griechenland auf der Grundlage dieses Deals jedoch für rechtswidrig befunden. Sie wurden wieder rückgängig gemacht, die Menschen wieder nach Deutschland geholt.

Der Syrer Haitham T., der im September 2018 aufgrund des Deals nach Griechenland geflogen worden war, hatte dieses Glück nicht. Er kam auf der Insel Leros in Haft, zeitweise drohte ihm sogar, in die Türkei gebracht zu werden. Erst später und mit Unterstützung griechischer Flüchtlingshelfer bekam er wegen einer psychischen Erkrankung einen Flüchtlingsstatus zuerkannt. Mit diesem Status konnte er dann wieder nach Deutschland reisen. Heute lebt er im Raum Dortmund, zusammen mit seinem Bruder.

EGMR sieht Menschenrechtsverletzung

Trotzdem klagte Haitham T. gegen seine Abschiebung im Jahr 2018 vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Der Gerichtshof in Straßburg gab ihm nun recht. Die Abschiebung nach Griechenland habe gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen, so das Urteil. Die deutschen und griechischen Behörden hätten im Fall von Haitham T. gegen das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verstoßen.

Deutschland hätte Haitham T. nicht einfach abschieben dürfen. Es habe damals die Gefahr bestanden, dass er in Griechenland kein angemessenes Asylverfahren bekommt. Und das Seehofer-Abkommen habe auch keine Garantien für wirksame Asylverfahren in Griechenland enthalten. Es habe die Gefahr bestanden, dass der Syrer zu Unrecht aus Griechenland in andere Länder weitergeschoben wird. Am Ende hätte er womöglich wieder in Syrien landen können. Das verstoße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention.

Deutschland habe außerdem nicht garantieren können, dass der Mann in Griechenland nicht unter Bedingungen inhaftiert wird, die seine Menschenrechte verletzen. Die Bedingungen in der griechischen Abschiebehaft wurden vom EGMR schon oft kritisiert.

Urteil relevant für aktuelle Asyldebatte

Das Urteil bewertet zwar nur den konkreten Einzelfall aus dem Jahr 2018, ist aber auch für die aktuelle Asyldebatte relevant. Die Entscheidung sei so zu verstehen, dass einseitige Zurückweisungen an der Grenze ebenfalls gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen, sagt Constantin Hruschka, Rechtsprofessor an der Evangelischen Hochschule Freiburg.

Genau solche Zurückweisungen werden aber seit Wochen immer wieder diskutiert und wurden etwa von der CDU schon gefordert. Dem steht zwar nach Ansicht von Experten auch das Europarecht entgegen, nach dem nun getroffenen Urteil sei die Menschenrechtskonvention aber ein weiteres, rechtliches Gegenargument, so Hruschka. "Eine Zurückweisung ist nur möglich, wenn ein Geflüchteter an Behörden übergeben wird", sagt der Asylrechtsexperte. Ein einfaches Wegschicken sei also unzulässig.

Doch so eine Zurückweisung mit Übergabe gehe nicht immer. Die Europäische Menschenrechtskonvention erlaube sie nur, wenn in dem Zielland der Zurückweisung ein ordentliches Asylverfahren garantiert sei. Das könne durch Abkommen sichergestellt werden, wie sie schon mit vielen Nachbar- und Mitgliedsstaaten bestehen.

Kettenabschiebung muss ausgeschlossen sein

Doch es gibt einen Haken: Selbst wenn ein Abkommen ein geordnetes Verfahren zusichere, müsse das auch der Praxis entsprechen, erklärt Hruschka. Wenn die Bundespolizei jemanden zurückweisen möchte, darf sie also keine Anhaltspunkte haben, dass der Geflüchtete etwa in eine Kettenabschiebung gerät und letztlich im Heimatland landet. Alles andere wäre mit dem EGMR-Urteil nicht vereinbar.

Auch die aktuellen Pläne der polnischen und niederländischen Regierung, das Asylrecht jeweils vorübergehend auszusetzen, machen nach Hruschkas Auffassung Zurückweisungen in diese Länder unmöglich. Ein geordnetes Asylverfahren sei da nicht mehr gewährleistet.

Menschenrechtsorganisationen begrüßen Urteil

Die Nichtregierungsorganisation PRO ASYL begrüßt das Urteil aus Straßburg. "Deutschland ist verpflichtet, menschenrechtliche Standards zu wahren und den Zugang zu rechtsstaatlichen Asylverfahren auch an deutschen Grenzen zu gewährleisten”, sagte Tareq Alawos von PRO ASYL. Die Organisation hatte sich gemeinsam mit Partnerverbänden, wie dem European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), mit einer Stellungnahme in das Gerichtsverfahren eingebracht.

Kläger steht Entschädigung zu

Im Fall von Haitham T. hätten die deutschen Behörden vorher prüfen müssen, ob in Griechenland ein Asylverfahren gewährleistet war. Nach Auffassung des EGMR war es das 2018 nicht.

Für den 31-jährigen ist das Urteil eine späte Genugtuung. "Es gibt doch noch Gerechtigkeit", sagte er der ARD-Rechtsredaktion. Die Verletzungen seiner Rechte wiegten damals so schwer, dass Haitham T. nun Entschädigung bekommt. Die Straßburger Richterinnen und Richter haben Deutschland zu einer Zahlung von 8.000 Euro verurteilt, Griechenland zu 6.500 Euro.

Aktenzeichen 13337/19 (H. T. / Germany and Greece)