Dietmar Woidke
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Woidkes Wahlkampf Pragmatisch zwischen den Lagern

Stand: 12.09.2024 19:45 Uhr

Lange lag die AfD in Umfragen zur Wahl in Brandenburg weit vor allen anderen Parteien. Nun hat die SPD aufgeholt - auch dank ihres Spitzenkandidaten. Wie sich Ministerpräsident Woidke durch den Wahlkampf manövriert.

Eine Analyse von Andre Kartschall, rbb

Es ist ein brütend heißer Spätnachmittag auf einem Milchviehhof vor den Toren von Angermünde. Rund 100 Leute sind erschienen, um den Ministerpräsidenten zu treffen. Es gibt Bratwurst, Erfrischungsgetränke und Bier. Auf der Bühne singt ein Liedermacher über ostdeutsche Identität und den Frieden. Die Stimmung ist tiefenentspannt.

Nach einer Stunde erscheint Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke und bleibt erst einmal zwischen den Bierbänken stehen. Dann tritt er vor die Bühne - nicht darauf, wohlgemerkt. Er will nicht von oben herab Reden schwingen, soll das wohl bedeuten. Nein, der Ministerpräsident möchte in den Dialog mit den Menschen kommen. Das ist die Idee hinter seiner "Strohballen-Tour".

24 Strohballenfeste in 30 Tagen

Es sind 24 Termine in 30 Tagen, fast jeden Abend einer. Alle Veranstaltungsorte liegen nicht in den größeren Städten, sondern eher auf dem Land. Also genau dort, wo die SPD die größten Probleme hat, Wählerstimmen zu erhalten.

Dennoch sind solche Termine für Woidke ein Heimspiel. Der Diplom-Agraringenieur kommt aus der Landwirtschaft und betont das auch gleich. Nicht ohne Stolz berichtet er, dass die SPD-Fraktion die höchste Dichte an Landwirten aller Fraktionen in allen Landtagen in ganz Deutschland aufweise.

Aus dem Stegreif plaudert er drauf los, was er und seine Partei mit dem Land vorhaben, was sie schon geschafft hätten und - mit einem Hauch leichter Selbstironie - dass die Menschen im Publikum "das Gefühl haben können, das Richtige getan zu haben". Und zwar am Abend des 22. September, "nachdem Sie ihre Stimme der SPD gegeben haben". Leichtes Lachen im Publikum und wohlwollender Applaus.

Nur manchmal merkt man, dass Woidke einen Doktortitel hat - wenn er selbst Details genau erörtert und des Öfteren betont, dass manche Dinge eben auch kompliziert sind. Schnell aber fängt er sich wieder und redet weiter wie der Brandenburger von nebenan.

Wahlkampf auch gegen die Genossen im Bund

Woidke verspricht, alle 66 Kliniken im Land erhalten zu wollen. Damit steht er im deutlichen Widerspruch zu Bundesgesundheitsminister und Parteikollege Karl Lauterbach, der die Krankenhauslandschaft effizienter gestalten will. Woidke erntet Applaus, die medizinische Versorgungslage auf dem Land ist hier ein großes Thema - rund 40 Prozent der Wahlberechtigten sind im Rentenalter. Außerdem ist Wahlkampf und da geht es eben manchmal auch gegen die eigene Bundespartei.

Auch heute zeigt sich, dass Woidke offenbar keine Scheu hat, auf Menschen zuzugehen. Gern legt der 1,96-Meter-Hüne seinen Mitbürgern die Hand auf die Schulter, klopft aufmunternd auf den Rücken und setzt sich zu den potenziellen Wählern. Damit will er "auf Augenhöhe" sein.

Keine linken Visionen

"Bodenständig" ist ein Wort, das oft fällt, wenn Brandenburger den Ministerpräsidenten beschreiben. "Vernünftiger Mann", sagt ein Besucher des Strohballenfests über Woidke. Mehr Lob geht kaum in Brandenburg; mehr Worte würden viele Leute hier auch prinzipiell nur ungern verlieren.

Woidke und die Brandenburger SPD zählen zum Realo-Flügel der Partei. Linke Visionen gehören nicht zu ihrem Handwerk, stattdessen fahren die märkischen Sozialdemokraten bereits seit der Wende einen Kurs der Mitte. Gerade einmal drei Ministerpräsidenten hat das Land seit 1990 erlebt: Manfred Stolpe, Matthias Platzeck und Woidke. Brandenburg ist SPD-Land - auch dank der pragmatischen Linie der Partei. 

Woidke ist ein entschiedener Landespolitiker, bundespolitische Ambitionen wurden ihm nie ernsthaft nachgesagt. Stattdessen legte er sich in seiner Amtszeit regelmäßig mit den Regierenden in Berlin an.

Ausgleich für jede Härte

Den Ausstieg aus der Braunkohleverstromung im Süden Brandenburgs hat Woidke - recht erfolgreich - versucht, so lange wie möglich hinauszuzögern. Arbeitsplätze und Energiesicherheit waren seine Lieblingsargumente.

Gleichzeitig wurden dank Fördermitteln Wind- und Solarkraft ausgebaut, außerdem der Elektroautohersteller Tesla nach Brandenburg gelockt. Und in das Lausitzer Braunkohlerevier fließen Milliarden an Fördermitteln. Für jede Härte, die die Brandenburger trifft, forderte Woidke stets Ausgleich vom Bund.

Im Ergebnis kann Woidke eine durchaus bemerkenswerte Bilanz vorweisen: Das Durchschnittseinkommen in Brandenburg ist auch dank des "Speckgürtels" rund um Berlin das höchste in Ostdeutschland und liegt sogar über dem in Bremen, dem Saarland und der Bundeshauptstadt. Unter dem Strich geht es den Brandenburgern laut vieler Kennzahlen und Messgrößen nicht schlecht.

Lage relativ gut, Stimmung so schlecht wie nie

Im völligen Gegensatz dazu lesen sich die Umfragewerte. Seit Monaten führt die AfD, die SPD kommt auf Platz zwei, vor CDU und dem Bündnis Sarah Wagenknecht, das binnen weniger Monate nach Gründung bei 13 Prozent erreicht.

Wohlgemerkt, alles nur Umfragen, das betont Woidke auch, sobald er darauf angesprochen wird. Er verweist auf den Gegenwind für die Ampelkoalition in Berlin und die Bundes-SPD im Speziellen: "Auf der Bundesebene ist die Situation für die SPD, wie übrigens auch schon vor fünf Jahren, nicht so berühmt."

Denn bereits vor der Landtagswahl 2019 sahen einige den Absturz der SPD vom ersten Rang der Wählergunst voraus. Am Ende kam es anders - Anlass für einen typischen Woidke-Satz: "Ich bin da sehr, sehr optimistisch, weil wir vor fünf Jahren ungefähr die gleichen Umfragen hatten und es am Ende geschafft haben, deutlich die Landtagswahlen zu gewinnen."

Das heißt auch: Andere lagen schon öfter falsch, am Ende hat sich die Verlässlichkeit durchgesetzt. Er sieht an beiden Rändern Populisten am Werk. Für den Fall, dass seine SPD nicht stärkste Kraft werden sollte, hat Woidke angekündigt, nicht mehr Ministerpräsident werden zu wollen.

Pragmatismus in politisch komplizierten Zeiten

Doch auch wenn es Woidke schaffen sollte, die meisten Stimmen auf die SPD zu vereinen: Die politische Lage im Land ist komplizierter geworden. Mit den Blauen will niemand koalieren - das macht die Mehrheitsbeschaffung schwieriger. Ob Grüne und Linke es in den Landtag schaffen, steht in den Sternen. Die FDP hat sich in Umfragewerte an den Rand der Messbarkeitsschwelle manövriert. Bleiben noch CDU und BSW.

Man kann Dietmar Woidke durchaus glauben, dass er Probleme hat, einen Neuankömmling wie das Bündnis Sarah Wagenknecht inhaltlich ernst zu nehmen. Für ihn, den Landespolitiker durch und durch, ist das BSW eine Protestpartei, getragen vom Sentiment der Bundesthemen, versammelt um die Parole "Frieden". Antworten auf die Fragen, die sich für das Land Brandenburg stellen, erwartet er wohl nicht ernsthaft von der neuen Konkurrenz.

Bei der Frage nach einer möglichen SPD-BSW-Koalition reagiert er, typisch Woidke, betont pragmatisch: "Also man muss da abwarten, was da nach der Landtagswahl passiert und mit wem man es da zu tun hat. Nach der Wahl entscheiden wir, mit wem wir Gespräche führen." Die anderen in Brandenburg kommen und gehen - am Ende regiert die SPD, so könnte man das Selbstverständnis auch interpretieren. Koaliert werde aber nur mit Parteien, die "auf dem Boden des Grundgesetzes stehen".

Migrationspolitik auf den Prüfstand

Im Wahlkampf ist allerdings auch Woidke selbst nach rechts gerückt. Nun vertritt er Positionen, die vielen in seiner Partei wohl als zu populistisch gelten würden. Direkt vor dem Strohballenfest hatte Woidke an einer außerordentlichen Sitzung im Landtag teilgenommen. Das Thema war der Anschlag von Solingen, beantragt hatte die Sitzung die AfD. Woidke nahm die Gelegenheit zum Anlass, um mal wieder Punkte auf Kosten der Bundespolitik zu machen. 

Woidke forderte kurzerhand: "Die Migrationspolitik der letzten zehn Jahre muss überprüft werden." Außerdem sollten Migranten, die vor ihrer Abschiebung abgetaucht sind, zur Fahndung ausgeschrieben werden. Woidkes Vorstoß war offenbar nicht mit den Koalitionspartnern CDU und Grünen abgestimmt .

Und der Aufschrei eines ehemaligen und möglicherweise zukünftigen Koalitionspartners ließ nicht lange auf sich warten. "Sie lassen sich von der AfD treiben", befand der Fraktionschef der Linken. Auf dem Strohballenfest verteidigt Woidke seine Aussagen vom Vormittag: "Es gibt immer zwei Reflexe in der Migrationsdebatte. Der erste ist: Das geht alles nicht, was vorgeschlagen wird. Und der zweite ist, wenn man Dinge anders macht, dann wird gesagt, man läuft da irgendjemandem hinterher." Viel wichtiger aber sei: Man müsse die Sorgen der Menschen ernst nehmen.

An den Bierbänken bei Angermünde begegnet Woidke nicht nur SPD-Wählern, das wird an diesem Abend klar. Eine Frau redet 20 Minuten ununterbrochen auf den Ministerpräsidenten ein. Es geht um Kobaltminen, den Maidan, Israel und Gaza und kein bisschen um Brandenburg. Mit Engelsgeduld hört Woidke zu.

Am Ende sagt sein Gegenüber: "Und deshalb kann ich die SPD nicht wählen." Woidke nickt freundlich - er selbst ist kaum zu Wort gekommen - und verabschiedet sich höflich. Er muss und kann nicht alle überzeugen. Aber bislang hat es für ihn und die SPD auch so noch jedes Mal gereicht.