Sozialdemokraten im Osten Wo die SPD klein, aber mächtig ist
Einst wurde die SPD in Ostdeutschland gegründet. Heute kämpft sie dort teils mit einstelligen Umfragewerten - wenn es ums Regieren geht, kommt man dennoch nicht an ihr vorbei. Hat sie sich damit abgefunden?
Sie ist alt, die Fahne des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins Droyßig, 153 Jahre alt. Älter als die eigentliche "Traditionsfahne" der SPD. "Gewidmet von den Frauen und Jungfrauen der hiesigen Mitglieder" steht in goldgelben Lettern auf dem klatschmohnroten Stoff. Am Rand sind ein paar Löcher dazugekommen. Weil die Familien der Steinmetze von Droyßig arm waren, ist die Schrift nur aufgemalt, nicht gestickt.
Bundesweit feiert die SPD in diesen Tagen ihr 160-jähriges Bestehen. Am 23. Mai 1863 wurde der ADAV, der Vorläufer der Partei, hier in der Region, in Leipzig gegründet. Bismarck war noch nicht Kanzler, ein Kaiserreich noch Wunschdenken, aber die Arbeiterklasse begehrte auf. Auch in Droyßig, einer kleinen Gemeinde im heutigen Sachsen-Anhalt.
SPD-Politiker Rolf Mützenich (l.) und Rüdiger Erben mit der Traditionsfahne von 1870
Kanzlerjahre und Überlebenskampf
Die Fahne, die an diesem Montagabend in der Aula des örtlichen Gymnasiums gezeigt wird, war jahrelang verschollen. Nun hat sie neben 50 traditionsbewussten Genossen und einigen wenigen Genossinnen auch Rolf Mützenich angelockt. Der SPD-Fraktionschef im Bundestag wirkt ehrlich bewegt, als er sagt: "Ich wollte mir das nicht entgehen lassen."
Eingeladen hat der Kreisvorsitzende und Landtagsabgeordnete Rüdiger Erben. Der erinnert an Zeiten, als die Fahne versteckt werden musste. Und an einen SPD-Politiker aus der Gegend, der 1933 von den Nationalsozialisten verhaftet wurde und dessen Spuren sich elf Jahre später im Konzentrationslager Sachsenhausen verlieren.
Mühsal. Arbeiterkampf. Widerstand gegen das Nazi-Joch. Das gehört zur SPD-Identität. Erben beschwört noch einen Dreiklang: Brandts Entspannungspolitik. Schröders Nein zum Irak-Krieg. Scholz’ Zeitenwende. SPD-Kanzlerjahre, so die Botschaft, sind schwierige Jahre.
Allerdings sind die Zeiten für manche SPD-Landesverbände schwieriger als andere. In Sachsen-Anhalt lag die Partei in einer Umfrage zuletzt bei acht Prozent. Das ist so schlecht wie das historisch schlechteste Landtagswahlergebnis hier vor zwei Jahren. In Sachsen und Thüringen, wo 2024 Wahlen anstehen, sind es nur wenige Prozentpunkte mehr. Die SPD kommt aus dem Tal kaum heraus.
Wenig nett wirken da die Worte der sächsischen Grünen-Fraktionschefin Franziska Schubert. Über den Koalitionspartner sagte Schubert kürzlich der "Sächsischen Zeitung": Die SPD kämpfe "in Teilen Sachsens um das politische Überleben". Das bringe eine "gewisse Ellbogenmentalität" mit sich. Da sei selbst der Umgang mit der Kretschmer-CDU einfacher.
Regierungsgarantie im Osten
Nun stehen die Genossen und Genossinnen etwa in Bayern und Baden-Württemberg aktuell in Umfragen kaum besser da. Die Situation im Osten ist aber eine grundsätzlich andere. Denn die SPD ist die einzige Partei, die in allen fünf ostdeutschen Bundesländern und Berlin mit regiert. Die parteiübergreifende Abgrenzung zur AfD und die Spannungen zwischen Ost-CDU und Bündnis-Grünen geben der Partei eine Art Regierungsgarantie. Die SPD kann mit CDU und Linken, FDP und Grünen gleichermaßen.
Regierungschef oder -chefin stellt die SPD allerdings nur in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Dennoch wirkt es in diesen Monaten so, als ob sich die Partei mit ihrer Rolle abgefunden habe. "Die ständige Sehnsucht nach Opposition ist wie weggeblasen", sagt Erben in seiner Rede. Noch vor zwei Jahren hatten Kritiker geunkt, dass ohne inhaltliche Neuausrichtung irgendwann die Fünf-Prozent-Hürde die SPD stoppt.
Dass man sich dabei auch mit Berlin versöhnt zeigt, liegt nicht nur daran, dass gerade wieder "Kanzlerjahre" sind, sondern auch an Rolf Mützenich. Mützenichs Haltung zum Ukraine-Krieg hat ihm viel Kritik eingebracht. Nicht nur, aber gerade im Osten hat sie aber auch jene Genossen bestärkt, die mit Waffenhilfen und Krieg fremdeln oder aber Putin-Russland nicht verdammen wollen. Manchmal auch beides.
So lobt Mützenich - neben der gemeinsamen Geschichte der SPD und der Landesgruppe Ost der Bundestagsfraktion - den Kanzler. Der setze nicht nur auf Hilfen für die Ukraine, sondern eben auch auf Gespräche mit Staaten wie China. Die löchrige Fahne neben ihm, sagt Mützenich, sei Auftrag, "Ausschau zu halten nach den Chancen auf Frieden". Zustimmung im Saal.
Gebraucht werden
Was in den Reden keinen Platz findet: der Aufbruch von 1989. Anders als CDU, FDP und heutige Linke ging die Ost-SPD nicht aus einer Blockflötenpartei oder sogar der SED hervor. Sie fand ähnlich wie Bündnis 90 eine eigene Geschichte, mit Persönlichkeiten wie Wolfgang Thierse, Manfred Stolpe oder der heute oft vermissten, früh verstorbenen Regine Hildebrandt. Auch darauf könnte man ja stolz sein.
In Sachsen-Anhalt war Rüdiger Fikentscher von Anfang an dabei. Fikentscher, roter Schal, weißes Haar, wird in Droyßig wie ein Ehrengast empfangen. Während seiner Zeit als Landes- und Fraktionsvorsitzender führte die SPD noch acht Jahre die Landesregierung, ließ sich dabei zweimal von der damaligen PDS tolerieren: ein eigener Weg, das "Magdeburger Modell". Spätere linke Regierungsverantwortung wäre ohne dieses kaum denkbar gewesen.
Doch 1989, am Ende der DDR und Neubeginn der SPD, dozierte der HNO-Arzt Fikentscher noch an einer Uni. "Uns konnte keiner was vormachen", sagt er über die Zusammenarbeit mit der West-SPD. Alle Genossen und Genossinnen hätten einen Beruf gehabt, Parteikarrieren gab es damals noch nicht.
Fikentscher hat ein Selbstbewusstsein, das seine Partei im Osten gerade sucht. Der Wut und Unzufriedenheit vieler AfD-Wähler setzt die SPD etwa den streitbaren Ostbeauftragten der Bundesregierung, Carsten Schneider, entgegen. Der fordert mehr Mitgestaltung für, aber auch Selbstermächtigung von den Ostdeutschen. Brandenburgs SPD-Ministerpräsident Dietmar Woidke sagt sogar, es sei "Zeit für ein neues ostdeutsches Selbstbewusstsein".
Damit schlägt man dieselbe Trommel wie die Ost-CDU und der umstrittene Leipziger Bestseller-Autor Dirk Oschmann, im Zweifel aber weniger laut. Ob das reicht, um die AfD einzudämmen, ist offen. Ebenso wie die Breitenwirkung eines Zukunftszentrums "Deutsche Einheit und Europäische Transformation", das der Bund in Halle in Sachsen-Anhalt ansiedeln will. Die SPD verkauft die Hunderte Millionen Euro teure Begegnungs- und Forschungsstätte als "ihr" Projekt.
Dass die Partei im Osten "gebraucht wird", wie sich manche Genossen selbst versichern, zeigen die Kommunalwahlen. In Brandenburg - im Landkreis Oder-Spree oder in Cottbus - waren es zuletzt SPD-Kandidaten, die eine starke AfD aus den Ämtern fernhielt.
Sie haben sich "für die Fahne gezeigt", wie Mützenich in seiner Rede über andere Kandidaten gesagt hat. Er wisse um die Schwierigkeit, ergänzt der Fraktionschef später. Zwar kenne er die Verhältnisse im Einzelnen nicht, aber: "Ich glaube, dass es anstrengend ist, insbesondere sich hier im Osten als Sozialdemokrat nicht nur zu bekennen, sondern auch zu arbeiten." Von daher sei sein Besuch in Droyßig auch als Unterstützung zu werten.