Beamte der Bundespolizei kontrollieren Fahrzeuge am Grenzübergang Bademeusel an der BAB 15 (Archivbild).
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Asylpolitik Warum Zurückweisungen rechtlich umstritten sind 

Stand: 06.09.2024 19:38 Uhr

CDU-Chef Merz hat der Ampel ein Ultimatum gestellt: Bis Dienstag soll sie sich zu Zurückweisungen von Flüchtlingen an den deutschen Grenzen bekennen. Ob das rechtlich zulässig ist, ist hochumstritten.

Von Kolja Schwartz und Frank Bräutigam, ARD-Rechtsredaktion

Worum dreht sich die aktuelle Diskussion?

Für Friedrich Merz und die CDU ist klar: Man kann die Migration in Deutschland nur in den Griff bekommen, wenn man keine Flüchtlinge mehr ins Land lässt. Rechtlich sei das möglich, erklärt die größte Oppositionspartei, notfalls müsste man die "nationale Notlage" erklären.

Die Bundesregierung hat zugesagt, Zurückweisungen zu prüfen, Justizminister Marco Buschmann erklärte: "Die Innenministerin und ich wollen dazu einen Vorschlag machen. Mein Wunsch ist es, dass wir das politisch hinbekommen, natürlich im Rahmen des geltenden Rechts." Ob das Recht das zulässt, ist eine hoch umstrittene Frage.

Sind Zurückweisungen nach EU-Regeln zulässig?

Das deutsche Asylgesetz enthält zwar Regeln zum Thema Zurückweisung an der Grenze. Sie werden aber vom EU-Recht überlagert. Entscheidend sind die Regeln der Dublin-III-Verordnung der EU. Darin steht unter anderem, wie mit Menschen zu verfahren ist, die an den deutschen Grenzen ankommen und Asyl suchen.

Die Verordnung legt auch fest, wer in der EU für das jeweilige Asylverfahren zuständig ist. Und, dass die Mitgliedsstaaten asylsuchende Flüchtlinge nicht einfach so zurückweisen dürfen. Also auch dann nicht, wenn sie selbst nicht zuständig sind für das Verfahren. Vielmehr müssen sie genau prüfen, welcher Staat stattdessen zuständig ist. Dann dürfen und sollen sie den Flüchtling geordnet in genau dieses Land überstellen, damit dort das Asylverfahren durchgeführt werden kann.

"Dieses Verfahren dauert derzeit knapp fünf Monate, erst nachdem ein Verwaltungsgericht grünes Licht gegeben hat, darf Deutschland dann an den zuständigen Staat überstellen. Das ist etwas ganz anderes als eine Zurückweisung an der Grenze", erklärt Daniel Thym, Professor für öffentliches Recht an der Universität Konstanz.  

Asylsuchende sollen also koordiniert zurückgeführt werden und nicht in Europa umherirren und von einem Land in ein anderes geschickt werden. In aller Regel sind für die Asylverfahren nicht die deutschen Nachbarländer zuständig, sondern die Mitgliedsstaaten an den EU-Außengrenzen. Eine Zurückweisung in die Nachbarländer ist also nach ganz überwiegender Meinung der Experten nach den Dublin-Regeln nicht erlaubt. 

Gilt das auch, wenn Flüchtlinge schon in einem anderen Land registriert sind?

Ja, auch wenn der Flüchtling bereits in einem Land an der EU-Außengrenze registriert ist, muss Deutschland ein geordnetes Verfahren durchführen und ihn in dieses Land zurückbringen. So besagen es die konkreten Dublin-Regeln.

"Zurückweisen kann man an der deutschen Grenze nur Menschen, die keinen Asylantrag stellen und den auch nicht in einem anderen Land gestellt haben", erklärt Constantin Hruschka, Professor für Sozialrecht an der evangelischen Hochschule Freiburg. Das wird auch jetzt schon zum Teil so gemacht. Dafür gibt es entsprechende Abkommen mit den Nachbarländern. 

Ändert die EU-Asylrechtsreform daran etwas?

Zum Teil wird in der Diskussion jetzt angeführt, Deutschland müsse nur die beschlossene EU-Asylrechtsreform vorziehen und dürfte dann die bereits in einem anderen Land registrierten Flüchtlinge an der Grenze zurückweisen.

Doch auch diese Annahme ist rechtlich nicht begründbar, erklärt Asylrechtsexperte Daniel Thym: "Bei den hier relevanten Regeln ändert sich beinahe nichts. Ganz bewusst wurde der Status quo fortgesetzt, weil Nord- und Südländer völlig gegenläufige Interessen haben."

Auch Constantin Hruschka ist sich sicher, dass die Reform nicht dafür sorgt, dass Zurückweisungen von Asylsuchenden rechtlich möglich werden: "Man hatte überlegt, den Schengener Grenzkodex zu ändern und dort reinzuschrieben, dass schon registrierte Asylsuchende abgewiesen werden können. Das ist aber eben nicht so gekommen. Und an den Dublin-Regeln, die vorrangig gelten, hat sich insoweit nichts geändert."  

Kann Deutschland eine "Notlage" erklären und dann zurückweisen?

Friedrich Merz zeigte sich überzeugt: Wenn das Europarecht die Zurückweisungen nicht zulasse, müsse Deutschland die "nationale Notlage" erklären und das Europarecht in diesem Punkt außer Acht lassen.

Grundlage für diese Argumentation ist der Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Der erlaubt es den Mitgliedsstaaten tatsächlich ausnahmsweise, das Europarecht außer Acht zu lassen in diesen Asyl- und Migrationsfragen, wenn eine Ausnahmesituation besteht. "Das ist zumindest mal ein rechtlicher Ansatzpunkt. Man könnte versuchen, Zurückweisungen so zu begründen. Bisher sind allerdings alle Staaten, die sich vor dem Europäischen Gerichtshof darauf berufen haben, mit dieser Argumentation gescheitert", erklärt Daniel Thym.  

Was wären die Voraussetzungen für eine solche Notlage?

Art 72 AEUV fordert als Voraussetzung, um das EU-Recht außer Acht zu lassen, dass die "Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung" und der "Schutz der inneren Sicherheit" in Gefahr sind. "Der Bestand des Staates müsste gefährdet sein", übersetzt Constantin Hruschka. "Da sehe ich keine Möglichkeit für Deutschland, Dublin und Co auszusetzen", so die Einschätzung des Experten.

Hinzu kommt: Es dürfte keine andere, mildere Möglichkeit geben, diese Gefahr auszuräumen, so Hruschka: "Man müsste erstmal alles andere versuchen." Wohl auch die EU-Kommission um Hilfe bitten. "Deutschland hat jetzt zumindest mal den Hilferuf an die europäische Asylagentur gestellt, aber eben auch erst jetzt", sagt Hruschka.

Entscheidend dürfte am Ende sein, wie gut Deutschland die Notlage begründen würde und welchen Spielraum der Europäische Gerichtshof dabei zugesteht. Die Experten sind skeptisch, dass das rechtlich durchgeht. "Juristisch falsch ist aber auch die pauschale Behauptung, Zurückweisungen seien generell rechtswidrig. Über diesen rechtlichen Weg könnte man es zumindest versuchen", so Daniel Thym. 

Wer könnte gegen Zurückweisungen klagen?

Die Bundesregierung würde also mit verstärkten Zurückweisungen jedenfalls ein rechtliches Risiko eingehen. Entscheidend wäre dann, wie die deutschen und europäischen Gerichte über Fälle von Zurückweisungen entscheiden. Es gibt mehrere Möglichkeiten, wie solche Fälle vor die Gerichte kommen könnten.

Zurückgewiesene Asylsuchende könnten vor den Verwaltungsgerichten der Grenzregion klagen und dies mit Eilanträgen verbinden. Bei ablehnenden Entscheidungen wären auch Eilanträge beim Bundesverfassungsgericht möglich.

Eine besonders wichtige Instanz für dieses Thema ist der Europäische Gerichtshof in Luxemburg. Denn er entscheidet abschließend darüber, wie EU-Recht auszulegen ist. Abgelehnte Asylsuchende können aber nicht selbst direkt bis vor den EuGH gehen.

Im Laufe einer Klage vor den deutschen Verwaltungsgerichten würde ein nationales Gericht (relativ schnell) die entscheidenden Fragen dem EuGH vorlegen, der sie dann für das nationale Gerichtsverfahren beantwortet. Das würde aber mindestens einige Monate dauern.

Rechtsfragen rund um Zurückweisungen an der Grenze könnten noch auf einem anderen Weg zum EuGH gelangen. Erstens könnte die EU-Kommission rechtliche Bedenken anmelden und Deutschland am Ende vor dem EuGH verklagen. Bislang war die Kommission aber zurückhaltend, was Kritik zum Thema Grenzkontrollen angeht. Zweitens könnte ein anderer EU-Mitgliedsstaat Deutschland in Luxemburg wegen eines möglichen Verstoßes gegen EU-Recht verklagen. Solche Verfahren würden aber einige Zeit in Anspruch nehmen. 

Was würden die Zurückweisungen faktisch bedeuten?

Bis es zu der abschließenden Klärung durch den EuGH kommt, würden also mindestens Monate vergehen. Bis dahin wäre die politische Wirkung natürlich längst eingetreten. Möglicherweise würden andere Staaten es Deutschland nachmachen und es hätte eine abschreckenden Wirkung für Flüchtlinge, sich überhaupt auf den Weg zu machen.

Wenn Deutschland damit aber wirklich erreichen will, dass man eine große Zahl zurückweisen will, müssten die Grenzkontrollen enorm ausgeweitet werden. Im Grunde müsste man die komplette Grenze sichern.  

Sind diese Grenzkontrollen erlaubt?

In der Diskussion gerät schnell in Vergessenheit, dass Grenzkontrollen nach dem Schengen-System die absolute Ausnahme sein sollen. Dauerhafte Grenzkontrollen darf es eigentlich nicht geben. Nur in Ausnahmesituationen und in der Regel nicht länger als sechs Monate.

Bewusst machen muss man sich auch, dass dauerhafte Grenzkontrollen enorme Auswirkungen für die Wirtschaft und den Tourismus haben und dem europäischen Gedanken zuwiderlaufen. All das müsste man politisch in Kauf nehmen. Genauso wie das Risiko, dass der Europäische Gerichtshof die Grenzkontrollen am Ende für rechtswidrig erklärt.