Krisenforscher zur Lage der Sozialdemokraten Was die SPD von VW lernen kann
Falsche Themen, ungeschickter Umgang mit Flügelkämpfen: Eine "späte Strukturkrise" bescheinigt der Krisenforscher Frank Roselieb der SPD. Von VW könne die SPD lernen, wie es besser geht. Ein Interview über gute Krisenstrategien, Kapitäne und Kandidaten.
tagesschau.de: Woran erkennt der Profi, dass sich die SPD in einer Krise befindet?
Frank Roselieb: In der Krisenforschung unterscheiden wir fünf Krisenphasen. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um ein Unternehmen oder um eine Partei handelt. Am Anfang stehen die Strategiekrise und die Frage, wohin die Reise denn gehen soll. Es folgt die Strukturkrise, weil sich niemand mehr in den verfestigten Strukturen richtig wohl fühlt. Im Stadium der Erfolgskrise bleiben die Kunden beziehungsweise die Wähler weg. In der Liquiditätskrise fehlt es an Geld, weil die Produkte nicht mehr gekauft werden oder die Spenden ausbleiben. Die finale Phase ist die Insolvenz. Bezogen auf eine Partei bedeutet das, es nicht mehr in den Bundestag zu schaffen. Das konnten wir bei der FDP beobachten, die eben alle fünf Phasen durchlief.
Für die SPD konstatieren wir, dass sie sich in einer späten Strukturkrise und in einer frühen Erfolgskrise befindet. Wir erkennen das an externen Signalen wie den schlechten Umfragewerten, aber auch an internen Signalen. Dazu zählt das Wahlergebnis von nur rund 74 Prozent für den Vorsitzenden Sigmar Gabriel auf dem Parteitag im Dezember.
Frank Roselieb leitet das Institut für Krisenforschung in Kiel und beschäftigt sich unter anderem mit der Kommunikation im Krisenmanagement von Großprojekten. Er ist geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Krisenmanagement.
"Glyphosat ist das falsche Thema"
tagesschau.de: Die SPD scheint jetzt über Abgrenzung vom Koalitionspartner punkten zu wollen. Unter anderem streitet man sich mit der Union über die Frage, ob die Zulassung des Unkrautvernichtungsmittels Glyphosat verlängert werden soll. Ist das eine erfolgversprechende Strategie?
Roselieb: Nein. Die SPD setzt auf die falschen Themen. Glyphosat interessiert vor allem Landwirte und Verbraucherschützer. Die meisten Menschen wissen noch nicht mal, wie man Glyphosat schreibt, geschweige denn, was es bedeutet.
Die SPD muss sich dringend das nutzen, was wir ein Reputationspolster nennen. Volkswagen hat genau das nach Bekanntwerden des Abgasskandals getan. Es wurden Werbespots geschaltet, in denen der Begriff "Diesel-Gate" gar nicht vorkam, sondern nur auf die Erfolge verwiesen wurde: der Käfer, der Bulli, der Golf – "Partner fürs Leben". Für die SPD hieße das, Errungenschaften wie Mitbestimmung, Wahlrecht oder Sozialversicherung herauszustellen.
Außerdem muss die SPD lernen, mit Flügelkämpfen, die es in jeder Partei gibt, geschickter umzugehen. Die Union hat es zum Beispiel verstanden, in der Flüchtlingskrise mit einer Good-Guy-Bad-Guy-Politik zu punkten. Auf der einen Seite macht Bundeskanzlerin Angela Merkel Selfies mit den Flüchtlingen und beruhigt so den linken Flügel. Auf der anderen droht der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer mit einer Verfassungsklage und fordert eine Obergrenze, was den Bedürfnissen des rechten Flügels entspricht. Dadurch kommt der Wähler gar nicht erst in die Verlegenheit, SPD wählen zu wollen, weil eben die Union alle möglichen Positionen besetzt.
Was Merkel richtig gut kann
tagesschau.de: Die Umfragewerte für die SPD sinken von Woche zu Woche, keine Initiative scheint zu zünden. Dabei haben die Sozialdemokraten in der Großen Koalition etliche Projekte wie zum Beispiel den Mindestlohn durchsetzen können. Warum nehmen die Wähler diese Erfolge offenbar nicht wahr?
Roselieb: Das liegt weniger an der Schwäche der SPD als an der Stärke der Union. Merkel ist vor allem in einem Punkt richtig gut, und das ist die Rolle des Kapitäns in der Krise. Es gehört zu den Grundlagen der Krisenbewältigung, dass dieser Kapitän in der Krise nicht ausgetauscht wird, denn dann sehnen sich die Menschen nach Erfahrung und einer sicheren Hand.
Merkel weiß, dass ihr Arbeitsvertrag erst im Herbst 2017 ausläuft, und nicht wenige Wähler rechnen ihr hoch an, dass sie offenbar gewillt ist, diesen Arbeitsvertrag trotz aller Probleme zu erfüllen. Dagegen fehlt dem Wähler bei der SPD und ihrem Vorsitzenden die Orientierung.
"Nicht jedes Parteienproblem ist ein personelles"
tagesschau.de: Welchen Anteil an der Krise hat der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel? Und wie beurteilen Sie dessen Kommunikation über die Situation?
Roselieb: Parteien funktionieren weniger wie Großkonzerne denn wie kleinere mittelständische Unternehmen. Während bei Großkonzernen das Team im Vordergrund steht, richtet sich das Augenmerk im Mittelstand auf den einen Mann oder die eine Frau an der Spitze. Genau so ist es bei Parteien.
Aber nicht jedes Parteienproblem ist ein personelles. Bei strukturellen Problemen wie im Falle des SPD macht es dann auch keinen Sinn, diesen Mann oder diese Frau austauschen zu wollen. Der Aufbau einer neuen Führungsperson wäre in der Krise viel zu langwierig.
Prinzipiell ist Gabriel sogar ein guter Kandidat, um eine Krise zu bewältigen. So ist er weder zu sehr dem linken oder dem rechten Flügel verhaftet. Er ist politisch erfahren, und er strahlt Ruhe aus. Die SPD müsste also Gabriel als den Mittelpunkt der Partei und als Integrationsfigur viel stärker betonen. Aber dafür sind die Partei und vor allem ihre führenden Köpfe nicht diszipliniert genug. Da wird schnell mal eine Meinung per Twitter in die Welt hinaus geblasen, was einen anderen Grundsatz der Krisenbewältigung verletzt: Kritik an Führungskräften wird nur intern geübt!
Kernkompetenz nicht verlieren
tagesschau.de: Schlechte Umfragewerte, Kritik an seiner Person, Streit in der Partei und mit dem Koalitionspartner - das sind Faktoren, die einen Menschen nicht unberührt lassen. Wie groß ist die Gefahr, dass es unter diesem Stress zu Reaktionen kommt, die die Lage nicht unbedingt verbessern?
Roselieb: Richtige Ausfälle in der Krisenkommunikation, sei es bei Unternehmen oder in der Wirtschaft, sind relativ selten. Mit den grauen Haaren sinkt einfach die Wahrscheinlichkeit eines kommunikativen Fehltritts. Bei der SPD sehe ich eher die Gefahr, dass die Partei ihre Kernkompetenz verliert. Dabei ist die Frage der Kernkompetenz diejenige, an der sich das "Recovery" entscheidet - wie komme ich aus dem Tal der Tränen wieder heraus?
Daimler ist dafür ein gutes Beispiel. Nach den Elchtests drohte das Unternehmen, seine Kernkompetenz in Sachen Sicherheit zu verlieren. Daimler hat entsprechend konsequent reagiert. Inzwischen sind die Kunden wieder bereit, für das tatsächliche oder vermeintliche Plus an Sicherheit bei Daimler einen erheblichen Aufpreis zu zahlen. Auch die SPD muss das aufnehmen, was die Menschen wollen: eine gute Work-Life-Balance, eine auskömmliche Rente, freie Wochenenden. Die Kernkompetenz der SPD ist eben das Soziale.
Das Interview führte Ute Welty, tagesschau.de