Bundesamt für Verfassungsschutz

Verfassungsschutzbericht "Sicherheitslage hat sich erneut verschärft"

Stand: 18.06.2024 10:00 Uhr

Islamisten, "Reichsbürger" und Linksextremisten bedrohen laut Verfassungsschutzbericht die Sicherheit - teilweise vereint durch Antisemitismus und Israelfeindlichkeit. Die größte Bedrohung bleiben demnach aber Rechtsextreme.

Von Claudia Kornmeier, ARD-Hauptstadtstudio

Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat seinen jährlichen Bericht dieses Mal um ein Sonderkapitel erweitert. "Die ohnehin angespannte Sicherheitslage hat sich 2023 erneut verschärft", schreibt Bundesinnenministerin Nancy Faeser im Vorwort. Zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ist der Krieg im Nahen Osten hinzugekommen. "Beides wirkt sich auf unser Land aus", so Faeser.

Verfassungsschutzbericht warnt: Extremistische Gruppierungen nehmen zu

Tina Handel, ARD Berlin, tagesschau, 18.06.2024 12:00 Uhr

Rechtsextreme, Linksextreme und Islamisten vereint gegen Israel

Das Sonderkapitel soll die unmittelbaren Auswirkungen des Nahostkonflikts auf die Sicherheitslage in Deutschland und den Anstieg antisemitischer Vorfälle in allen Phänomenbereichen darstellen.

Bei propalästinensischen Demonstrationen treten nach Einschätzung des Verfassungsschutzes neben Islamisten und palästinensischen Extremisten auch türkische Rechtsextremisten sowie deutsche und türkische Linksextremisten als Mobilisierungstreiber in Erscheinung. Ihr verbindendes Element: Antisemitismus und Israelfeindlichkeit.

Während sich Anhänger von Hamas und Hisbollah in der Öffentlichkeit zurückhaltend zeigten, instrumentalisierten andere islamistische Gruppierungen die aktuelle Lage und riefen zu weltweiten Anschlägen gegen jüdische Menschen und Einrichtungen auf - trotz dogmatischer Differenzen mit der Hamas. Einen starken Widerhall der Eskalation in Nahost habe es in den sozialen Medien gegeben.

Islamismus

Die Gefährdung durch den islamistischen Terrorismus hat sich aus Sicht des Verfassungsschutzes seit dem 7. Oktober "weiter erhöht", wobei das Personenpotenzial annähernd gleichbleibend auf 27.200 Personen geschätzt wird.

Die größte islamistische Gefahr gehe von Einzeltätern und Kleinstgruppen aus. Sie im Griff zu behalten sei besonders herausfordernd, da sie ihre Taten kurzfristig planten - mit wenig Organisations-, Netzwerk- und Kommunikationsaufwand. "Doch auch koordinierte, komplexe, langfristig geplante Anschläge bleiben in Deutschland jederzeit denkbar", so Faeser.

Der sogenannte Islamische Staat Provinz Khorasan (ISPK) scheine derzeit der stärkste IS-Regionalableger zu sein. Es mehrten sich die Anhaltspunkte dafür, dass auch Deutschland und Europa als Anschlagsziele in Betracht gezogen werden könnten.

Die Sicherheitsbehörden warnen bereits seit einer Weile insbesondere vor islamistischen Anschlägen im Zusammenhang mit der Fußball-Europameisterschaft in Deutschland und den Olympischen Spielen in Paris. Wobei sie betonen, dass es bislang keine konkreten Anhaltspunkte für Anschlagspläne gebe. Der Generalbundesanwalt führt bereits mehrere Ermittlungsverfahren gegen mutmaßliche Mitglieder und Unterstützer des "ISPK". 

Rechtsextremismus

Nach wie vor die "größte Gefahr für unsere freiheitliche Demokratie und die Menschen, die in ihr leben", ist aus Sicht der Bundesinnenministerin der Rechtsextremismus. Das Personenpotenzial der Rechtsextremisten schätzt der Verfassungsschutz auf 40.600. Davon werden 14.500 Personen als gewaltorientiert eingeschätzt.

Kai Arzheimer, Politikwissenschaftler Uni Mainz, über den jüngsten Verfassungsschutzbericht der Bundesregierung

tagesschau24, 18.06.2024 15:00 Uhr

Der Verfassungsschutz beobachtet eine Instrumentalisierung von Krisen, um die eigene Erzählung zu verbreiten. Das sei am Beispiel des Terrorangriffs der Hamas auf Israel deutlich geworden. Von einigen Akteuren sei angesichts propalästinensischer Demonstrationen in Deutschland von einem "Import" des Konflikts gesprochen und Migration pauschal als Wurzel gesellschaftlicher und sozialer Probleme dargestellt worden. Das Thema Migration und Asyl habe für Rechtsextremisten wieder an Bedeutung gewonnen.

Nach mehreren Verboten hätten drei weitere rechtsextremistische Gruppierungen reagiert, indem sie sich selbst auflösten, um einem Verbot zu entgehen. Demonstrationen in dem Bereich würden von der Regionalpartei "Freie Sachsen" dominiert.

Die AfD bleibt im Bund als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestuft. Das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen hatte diese Entscheidung im Mai bestätigt. Die schriftlichen Urteilsgründe liegen noch nicht vor. Mit einer Entscheidung über eine Hochstufung wird vorher nicht gerechnet.

Im Februar hatte die Bundesinnenministerin angekündigt, dem Verfassungsschutz mehr Befugnisse einräumen zu wollen, um finanzielle Verbindungen im Rechtsextremismus aufzudecken. Bisher darf der Verfassungsschutz nur nachforschen, wenn Extremisten zu Hass aufstacheln oder Gewalt anwenden. Ein entsprechender Gesetzentwurf liegt bislang nicht vor.

"Reichsbürger" und Selbstverwalter

Die Szene der sogenannten Reichsbürger und Selbstverwalter umfasst laut Verfassungsschutzbericht deutschlandweit etwa 25.000 Personen. "Harmlos ist an dieser Szene nichts", so Faeser. Etwa 2.500 Personen werden als gewaltorientiert eingestuft. Die Szene zeichne sich durch eine hohe Waffenaffinität aus.

Vor den Oberlandesgerichten Stuttgart, Frankfurt und München haben mittlerweile die Prozesse gegen die Gruppe um Prinz Reuß begonnen, die im Dezember 2022 bei einer großangelegten Razzia festgenommenen worden waren. Sie sollen einen gewaltsamen Umsturz geplant haben. Der Bundesanwaltschaft zufolge soll die Gruppe Zugriff auf ein massives Waffenarsenal gehabt haben.

Etwa fünf Prozent der "Reichsbürger" und Selbstverwalter sei eindeutig dem Rechtsextremismus zuzurechnen. Der Verfassungsschutz beobachtet, dass sich die Szene verjüngt und von Frauen mehr Zulauf bekommt. Außerdem finde vermehrt eine Vernetzung und Vermischung mit Gruppierungen aus anderen Bereichen statt - neben Rechtsextremisten etwa mit den sogenannten Delegitimierern. Verbindende Elemente seien eine demokratiefeindliche Einstellung und eine Offenheit für Verschwörungstheorien. Die Kategorie "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" hatte der Verfassungsschutz 2021 neu eingeführt.

Linksextremismus

Im Bereich des Linksextremismus hält der Verfassungsschutz "ein erkennbares, bislang nicht ausgeschöpftes Potenzial für eine weitere Radikalisierung einzelner Gewalttäter und Netzwerke sowie der Aktionsformen" für besorgniserregend. Die Szene professionalisiere sich.

"Bei ungehindertem Fortgang der Radikalisierung einzelner Personen oder Strukturen könnte in Deutschland ein neuer Linksterrorismus entstehen." Das Personenpotenzial der Linksextremisten schätzt der Verfassungsschutz auf 37.000. Davon werden 11.200 Personen als gewaltorientiert eingeschätzt.

Neben Gewalttaten insbesondere gegenüber Polizisten hätten Linksextremisten zunehmend auch Kritische Infrastruktur angegriffen und dadurch Sachschäden in mehrstelliger Millionenhöhe verursacht. Anschläge auf Kabelschächte, Telekommunikationseinrichtungen oder Bahnanlagen können weite Teile der Bevölkerung betreffen.

Neu als linksextremistischer Verdachtsfall eingestuft wird die Gruppe "Ende Gelände". Das Bündnis hatte sich im Kontext der Klimaproteste gegründet und etwa gegen die Räumung und den Abriss der Ortschaft Lützerath in Nordrhein-Westfalen mobilisiert. Die Gruppierung habe eigenständige Strukturen aufgebaut und dadurch ihr Mobilisierungspotenzial erhöht. Es rufe zu Aktionen bis hin zu Sabotage auf.

Spionage und Cyberangriffe

Neben der Beobachtung von Extremisten ist der Verfassungsschutz auch dafür zuständig, Spionagefälle, nachrichtendienstlich gesteuerte Cyberangriffe und Einflussnahme im Blick zu behalten. Hauptakteure in dem Bereich seien derzeit Russland, China, Iran und die Türkei.

"Fremde Mächte wie Russland, China und Iran setzen ihre Nachrichtendienste umfassend zur Spionage in und gegen Deutschland ein", so Faeser. Hinzu kommen nach Einschätzung des Verfassungsschutzes Versuche, illegitim Einfluss zu nehmen und hier lebende Oppositionelle zu überwachen.

Erst Anfang Mai hatte der Verfassungsschutz gemeinsam mit internationalen Partnern einen Cyberangriff der Gruppe APT28 zugeschrieben, die dem russischen Militärgeheimdienst zugeordnet wird. Hacker hatten sich Zugriff auf E-Mail-Konten der SPD-Parteizentrale sowie Unternehmen aus den Bereichen Logistik, Rüstung, Luft- und Raumfahrt sowie IT-Dienstleister verschafft.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete das ARD-Morgenmagazin am 18. Juni 2024 um 05:30 Uhr.