Verfassungsklagen gegen Lissabon-Vertrag Kippt Karlsruhe die EU-Reform?
Die Richter am Bundesverfassungsgericht beraten in diesen Tagen abschließend über die Klagen gegen den EU-Reformvertrag von Lissabon. Die Materie ist komplex, die Konsequenzen weitreichend. Möglicherweise handelt es sich um das letzte Urteil des Gerichts in Sachen EU.
Von Patrick Gensing, tagesschau.de
Ein Ziel haben die Gegner des Vertrags bereits erreicht: Der Lissabon-Vertrag konnte nicht wie erhofft zum 1. Januar 2009 in Kraft treten. Dabei war der Optimismus bei den Staats- und Regierungschefs nach dem EU-Gipfel in Lissabon im Oktober 2007 groß. "Ich bin rundum zufrieden", verkündete Kanzlerin Angela Merkel, die die Einigung bereits während der deutschen Ratspräsidentschaft entscheidend vorangetrieben hatte.
"Im Grunde war die Sache einfach", klopfte sich Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy selbst auf die Schultern. Er habe den EU-Skeptikern aus Polen und Italien Lösungsvorschläge präsentiert - und so sei der Kompromiss zustande gekommen.
Doch nun könnte die Grundsanierung der EU von anderer Seite ausgebremst werden. Fast alle Staaten haben die Vereinbarung bereits unterzeichnet - nur Irland, Polen, Tschechien und Deutschland fehlen noch. In der Bundesrepublik reichten mehrere Bundestagsabgeordnete sowie Professoren gleich drei Klagen beim Bundesverfassungsgericht ein. Die Richter des Zweiten Senats verteilen die komplexe Materie auf zwei Tage. Eine ungewöhnliche lange Zeit für eine mündliche Verhandlung, was nachvollziehbar wird, wenn man die umfangreichen Klagen, das 287 Seiten starke Reformwerk sowie die weitreichenden Folgen bedenkt.
"Blockademöglichkeiten aufheben"
Dass Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) und Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) die Position der Bundesregierung vertraten, zeigt: Es geht um viel. Die Befürworter des Vertrags warnen, die dringend notwendige Reform der EU sei vorerst gescheitert, sollten die Klagen erfolgreich sein. Der Vertrag sei nötig, damit die Entscheidungen innerhalb der EU leichter werden. Gerade die jetzige Wirtschaftskrise zeige, dass die EU immer öfter gezwungen sei, schnell gemeinsam zu handeln und möglichst mit einer Stimme zu sprechen. So soll künftig nur noch in Ausnahmefällen ein einzelner Staat durch ein Veto Entscheidungen kippen können.
Dies wird unter anderem von der Wirtschaft gelobt. Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt und BDI-Präsident Hans-Peter Keitel erklärten, der Vertrag hebe "Blockademöglichkeiten in der europäischen Gesetzgebung auf und vereinfacht die Zusammenarbeit einzelner Mitgliedstaaten". Der Vertrag müsse "schnellstmöglich in Kraft treten".
"Kein Europa der Räte und Ministerialräte"
An der Ausweitung der Befugnisse für die EU stören sich allerdings die Kläger. Sie meinen, dass die EU damit in die Kerngebiete der Staatlichkeit Deutschlands vordringe. Der Freiburger Staatsrechtler Dietrich Murswiek vertritt die Klage des CSU-Politikers Peter Gauweiler. Murswiek befürchtet, es könnte möglich werden, dass die Regierung schwer durchsetzbare Gesetze wie etwa zur Terrorabwehr auf die europäische Ebene verlagere.
Der FDP-Politiker und frühere Bundestagsvizepräsident Burkhard Hirsch warnt ebenfalls, dass die Bundesregierung künftig den Bundestag auf dem Umweg über Europa überspielen könne. Auch die Bestimmungen, welche die Demokratie und die nationalen Parlamente stärken sollen, hält Hirsch für Mogelpackungen. "Eine Volksabstimmung mit einer Million Stimmen würde nur dazu führen, dass die Kommission sich erneut damit befassen muss", so Hirsch. Die Parlamente könnten zwar "vor dem Europäischen Gerichtshof klagen, der aber meist pro EU entscheidet - viel Glück!"
Allerdings weisen die Befürworter des Vertrags darauf hin, dass die nationalen Parlamente erstmals direkte und unmittelbare Mitwirkungsrechte am Gesetzgebungsverfahren der EU erhielten. Zudem stärke das bislang nicht vorhandene Klagerecht die Rechte der Parlamente nachhaltig.
Demokratische Legitimation als "Knackpunkt"?
Im Jahr 1993 hatte das Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerden gegen den Maastricht-Vertrag verworfen, der die Grundlagen für die EU in ihrer heutigen Form legte. Die Verfassungsrichter hatten damals großen Wert auf die "demokratische Legitimation" der Brüsseler Entscheidungsgewalt gelegt. Genau diese zweifeln die Kläger an. Aus Sicht von Murswiek werde das Europäische Parlament eben "nicht demokratisch gewählt". Die Zusammensetzung des Parlaments verstoße "in krasser Weise gegen das demokratische Prinzip der gleichen Wahl". Hintergrund dieser Argumentation: Bei der Wahl zum EU-Parlament haben kleinere Staaten überproportional viele Abgeordnete. Damit werden nicht alle Wählerstimmen gleich gewichtet. (Siehe dazu: Vorschlag für Zusammensetzung des EU-Parlaments ab 2009)
Auch der Bielefelder Staatsrechts-Professor Andreas Fisahn, der die Kläger der Linksfraktion vertritt, setzt diesen Hebel an. Die Frage, ob das EU-Parlament für seine Rolle innerhalb die EU als "supranationaler Organisation" ausreichend demokratisch legitimiert sei, könne zum "Knackpunkt" werden, so Fisahn.
Letztes Urteil zu EU-Fragen?
Die Materie ist nicht nur höchst komplex, die Verfassungsrichter sind bei ihrer Entscheidung auch noch in einer höchst undankbaren Situation. Denn durch den Lissaboner-Vertrag würde auch das Bundesverfassungsgericht beschnitten. Für Fragen bezüglich der EU wäre dann der Europäische Gerichtshof zuständig. Daher spekulieren Beobachter bereits, die Verfassungsrichter würden keine Entscheidung fällen, sondern ein Referendum einfordern. "Womöglich entscheidet das Gericht diesmal, dass nun die Zeit dafür da ist, das Volk entscheiden zu lassen", kommentiert Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung.
Tatsächlich erhöhte Innenminister Schäuble bereits den Druck auf die Richter. Ende Januar pochte er in Karlsruhe auf die Zuständigkeit des mehrheitlich gewählten Parlaments für die Gesetzgebung. Mit Blick auf die bevorstehende Anhörung des Verfassungsgerichts zum EU-Reformvertrag unterstrich Schäuble, er habe keinen Zweifel, dass dieser "in vollem Umfang dem Grundgesetz entspricht". Ob die Richter dies auch so sehen, wird allerdings erst in einigen Wochen verkündet.