Russische Dissidenten "Das wäre ein Armutszeugnis für Deutschland"
Zu Kriegsbeginn sind viele russische Dissidenten mit Schengen-Visa nach Deutschland geflohen. Viele geraten nun in eine bedrohliche Lage, weil die Visa auslaufen und die Bundesregierung keine Lösung findet.
Anfang März, der Krieg gegen die Ukraine dauerte gerade eine Woche, stellte der beliebte kremlkritische Radiosender "Echo Moskwy" seinen Betrieb ein. Die Radiostation stand wie andere unabhängige russische Medien aufgrund ihrer Berichterstattung über den Krieg im Fokus der Behörden. Hunderte Medienschaffende und Oppositionelle flohen aus dem Land.
Maksim Kournikow, Vizechefredakteur von "Echo Moskwy", und einige seiner Kollegen gingen nach Berlin, mit einem dreimonatigen Schengen-Visum, ausgestellt von der deutschen Botschaft in Moskau. Seither bleibt er über die Sozialen Medien mit dem Publikum in Kontakt, produziert Podcasts und Videos, beantwortet Hörerfragen.
Wie es mit "Echo Moskwy" weitergeht, weiß Kournikow noch nicht. Mit den Kollegen schmiedet er Pläne. Doch in Kürze laufen ihre Schengen-Visa ab. Vermittelt über die Organisation "Reporter ohne Grenzen" stehen sie mit den Behörden in Kontakt. Doch von dort kommt bislang keine Entscheidung, welchen Aufenthaltsstatus sie erhalten können.
Lage nervenaufreibend, unverständlich
"Seit zwei Monaten hören wir Erklärungen von Ministern und Beamten, die Hoffnung machen. Aber in der Praxis sind die Dinge dann nicht so einfach", beschreibt Kournikow die Lage. Es herrscht große Unsicherheit. "Es ist eine ziemlich nervenaufreibende und wenig verständliche Situation, wenn jede Entscheidung den weiteren Aufenthalt in Deutschland erschweren kann."
Wenn sie in Deutschland abwarten, rutschen sie in die Illegalität. Würden sie dann aus Deutschland ausreisen, bekämen sie einen Stempel in den Pass mit der Angabe, dass sie die Aufenthaltsdauer überschritten haben. Für Menschen, die zuvor in einer Diktatur gelebt haben, ist es eine Horrorvorstellung, mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten.
Die genaue Zahl der Betroffenen ist schwer zu schätzen. Neben "Reporter ohne Grenzen" kümmern sich Anwälte, Politiker und Organisationen wie "Amnesty International". Deren Mitarbeiter Peter Franck erlebt ebenfalls massive Unsicherheit. Einige wollten in die Türkei oder nach Georgien ausreisen und warten. Manche überlegten aus Verzweiflung sogar, nach Russland zurückzufahren und dort auszuharren in der Hoffnung, Repressionen und Festnahme zu entgehen.
Bundestag fordert Visa und Arbeitsgenehmigung
Andere denken an Hungerstreik und ein Zeltlager vor dem Kanzleramt, um auf die Dringlichkeit ihrer Lage aufmerksam zu machen. Politische Unterstützung kommt aus dem Bundestag. Michael Roth von der SPD, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, fordert: "Menschen, die vor Putins Unterdrückungsregime geflohen sind, müssen schnell und unbürokratisch eine langfristige Zuflucht bei uns finden. Russische Journalistinnen und Journalisten riskieren ihre Freiheit und Gesundheit, um die Wahrheit über Putins Regime und den brutalen Krieg zu berichten."
Der Grünen-Außenpolitiker Robin Wagener sagt, es bleibe Gebot der Stunde, diesen Menschen angesichts der grassierenden Verfolgung im Land zu helfen. Wie Roth erinnert Wagener an den Bundestagsbeschluss vom 27. April. Darin forderte eine Mehrheit der Abgeordneten, den Oppositionellen, Menschenrechtlern und Medienschaffenden EU-weit gültige Visa und Arbeitsgenehmigungen zu erteilen, um damit "ihren Einsatz für ein anderes, freies und demokratisches Russland vom Exil aus zu unterstützen".
Auf der langen Bank
Konkreter werden die Politiker allerdings nicht. Dabei liegt die Entscheidung bei den von Grünen und SPD geführten Ministerien für Äußeres und Inneres sowie den Landesbehörden. Geklärt werden muss, welchen Status die aus Russland Geflohenen erhalten können, wenn sie sich bereits mit einem Schengen-Visum in Deutschland befinden.
Die zunächst unbürokratische und großzügige Erteilung solcher Visa für touristische oder geschäftliche Zwecke, die keine Sicherheitsprüfung erfordern, erweist sich jetzt beim Wechsel in einen längerfristigen Aufenthaltsstatus als Problem. Denn angesichts der Gesetzeslage ist dies nur eingeschränkt erlaubt.
Ein Antrag auf politisches Asyl ist möglich, kommt für die meisten aber nicht in Frage. Dies wäre mit Wartezeit verbunden, sie bekämen einen Wohnort zugewiesen, könnten nicht arbeiten und reisen. "Wir wollen aber jetzt sofort handeln", sagt beispielsweise Kournikow. Innenministerin Nancy Faeser versprach kürzlich in einem "Spiegel"-Interview ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das möglichst noch vor der Sommerpause kommen soll. Doch bis dahin sind die Visa längst abgelaufen.
Vorschläge, keine Lösungen
Faeser sagte, aktuell solle den Betroffenen mit Paragraf 22 Absatz 2 Aufenthaltsgesetz geholfen werden. Demnach kann aus "völkerrechtlichen oder dringenden humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden". Die Entscheidung darüber fällt Faesers Ministerium. Was sie jedoch nicht sagte: Vorgesehen ist die Beantragung einer solchen Aufenthaltserlaubnis grundsätzlich vom Ausland aus, nicht jedoch für Personen, die sich mit Schengen-Visum in Deutschland befinden.
Außerdem gibt es Befürchtungen, dass dieser Paragraf des Aufenthaltsgesetzes nur für eine bestimmte Anzahl von Personen aus Russland angewandt werden soll - ein Kontingent, wie es in der vergangenen Legislaturperiode das CSU-geführte Innenministerium für politisch Verfolgte aus Belarus vorgesehen hatte. In dem Jahr seit Beginn der Repressionswelle in Belarus wurden dann gerade einmal 38 Visa an politisch Verfolgte plus ihre Angehörigen vergeben.
Eine Möglichkeit für Personen, die sich in der Bundesrepublik aufhalten, wäre grundsätzlich die Anwendung von Paragraf 23 des Aufenthaltsgesetzes. Demnach können die Landesbehörden aus "völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland" anordnen, dass bestimmten Ausländern eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Sie kann mit der Erlaubnis zur Erwerbstätigkeit verbunden werden. Dies bedarf aber des "Einvernehmens" mit dem Innenministerium, um ein bundeseinheitliches Vorgehen sicherzustellen.
Kulturstaatsministerin Claudia Roth brachte zudem die Paragrafen des Aufenthaltsgesetzes zu Hochqualifizierten in die Debatte ein. Diese sind allerdings an strenge Voraussetzungen geknüpft. Während es an Vorschlägen nicht mangelt, läuft die Zeit davon und bei vielen verfestigt sich der Eindruck, dass es vor allem im Innenministerium hakt, und dass Entscheidungsträgern im Bundeskanzleramt die Dringlichkeit der Lage nicht ausreichend bewusst sein könnte.
Pragmatische Lösungen
Auf Länderebene gibt es hier und da Entscheidungen, um zumindest das Abgleiten in die Illegalität oder eine Ausreise zu vermeiden. Thüringen und Niedersachsen ermöglichen die Verlängerung der Schengen-Visa für Staatsangehörige aus Russland und Belarus: Angesichts des Krieges in der Ukraine könne davon ausgegangen werden, dass sie derzeit nicht in ihr Heimatland zurückkehren können.
Allerdings ist auch dies nur eine Übergangslösung für weitere drei Monate. Beantragung und Genehmigung der Visumsverlängerung erfordern zudem einige Zeit. In Berlin, wo sich viele aufhalten und wegen des Arbeitsumfeldes auch bleiben wollen, fehlt bislang eine politische Entscheidung der Innensenatorin. Dort entschied die Ausländerbehörde bisher in Einzelfällen.
Ein "Armutszeugnis"
Sergey Lagodinsky, der für die Grünen im Europa-Parlament sitzt und einst selbst aus Russland eingewandert ist, glaubt nicht, dass es am guten Willen der Beteiligten mangelt. "Allerdings stecken wir immer noch gerade im Bereich der Zuwanderung in der alten Denke, die davon ausgeht, dass jede Flexibilisierung der bisherigen Regelungen ein Sicherheitsrisiko darstellt." Die bürokratischen Hürden erwiesen sich in den vergangenen Jahren schon für viele andere Verfolgte, darunter aus der Türkei und Afghanistan als hinderlich.
Lagodinsky warnt, eine baldige Lösung sei dringend notwendig. "Wir können nicht riskieren, dass diese Menschen in Deutschland illegal bleiben, oder weiter ziehen, weil sie in Deutschland nicht bleiben können. Das wäre für Deutschland auch ein absolutes Armutszeugnis." Einige Betroffene waren so entsetzt, dass sie Schutz in anderen Staaten wie den Niederlanden oder den USA suchten, wo es einfachere Lösungen für Verfolgte gibt.
Ein Bündnis zivilgesellschaftlicher Organisationen und Gedenkstätten, die mit russischen Organisationen wie "Memorial" arbeiten, wendet sich nun ein zweites Mal mit einem dringenden Appell an die Bundesregierung. Die Beteiligten warnen auch vor einem Ansehensverlust Deutschlands, weil es "Bund und Länder in einer für die Betroffenen existenziellen Situation an praktischer Solidarität fehlen lassen." Deutschland müsse jetzt aber nicht nur aus Solidarität, sondern auch aus Eigeninteresse handeln.