Ein Schild an der Grenze zwischen Polen und Belarus, im Hintergrund ein Auto des polnischen Grenzschutzes und ein Schlagbaum.
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Gezielte Schleusung Migration via Belarus nimmt wieder zu

Stand: 22.05.2024 07:00 Uhr

Die irreguläre Migration via Belarus und Russland war im Winter fast auf null gesunken. Doch jetzt steigen die Zahlen wieder stark an. In Sicherheitskreisen spricht man von "hybrider Kriegsführung".

Von Manuel Bewarder, WDR/NDR

Auf der Insel Usedom kamen drei Männer mit jemenitischer Staatsangehörigkeit früh morgens über den Strand. An einem Grenzübergang zu Polen saßen in einem Renault neben dem polnischen Fahrer noch fünf Syrer. Zwei Eritreer wurden in einem Taxi kontrolliert, als sie unerlaubt in die Bundesrepublik einreisen wollten.

Polizeimeldungen wie diese gab es in den vergangenen Wochen immer wieder. An der deutsch-polnischen Grenze nimmt das Migrationsgeschehen wieder zu, was angesichts der wärmeren Jahreszeit keine Überraschung ist. Besonders ist in diesem Fall aber die Route, über die vermehrt wieder Migranten nach Ostdeutschland kommen: über Russland und Belarus. 

Nach Informationen von WDR, NDR und Süddeutscher Zeitung soll Belarus zusammen mit Russland offenbar wieder verstärkt daran arbeiten, Migranten aus Krisen- oder armen Gebieten gezielt über die Grenze in die Europäische Union zu schleusen. Das zeigt zum Beispiel eine aktuelle Statistik der Bundespolizei.

Demnach ist die Zahl der festgestellten unerlaubten Einreisen mit Bezug zu den beiden Ländern in diesem Frühjahr stark angestiegen. Zunächst war die irreguläre Migration über diese Route im Januar und Februar 2024 mit jeweils weniger als 30 Feststellungen so deutlich zurückgegangen, dass sie kaum noch Bedeutung hatte. Zum Vergleich: In den Vorjahresmonaten war es noch mehr als das Zwanzigfache.

"Hybride Kriegsführung"

Doch die Ruhe entlang dieser Route währte nur kurz. Seit dem Frühjahr nimmt die Migration dort stark zu: Im März gab es bereits 412 Feststellungen, im April waren es dann 670 und im Mai laut Bundespolizei bereits bis Monatsmitte 416.

Insgesamt überwiegt zahlenmäßig bei den Feststellungen an der deutsch-polnischen Grenze zwar weiterhin die Migration über die Balkanroute und die Slowakei oder Tschechien und Polen in die Bundesrepublik. Auch hier gab es nach relativ niedrigen Zahlen in den ersten beiden Monaten einen Anstieg im März. Einen wichtigen Unterschied aber gibt es: Die Migration via Belarus und Russland wird von europäischen Politikern und Sicherheitsbehörden als größtenteils gesteuert betrachtet. 

In deutschen Sicherheitskreisen beobachtet man die Entwicklung mit Sorge. Die Gesamtzahl ist im aktuellen Jahr zwar noch deutlich niedriger als in den vergangenen Jahren. Nach dem plötzlichen Hochschnellen im Frühjahr wird ein weiterer Anstieg aber nicht ausgeschlossen. "Wir haben es hier mit hybrider Kriegsführung zu tun", heißt es in Sicherheitskreisen.

 

Kurzzeitvisa für Russland

Die Sicherheitsbehörden haben Hinweise auf eine gesteuerte Einwanderung. Manche Migranten machen entsprechende Angaben zu ihrer Reiseroute. Der Recherche zufolge soll rund die Hälfte der Befragten auf dieser Route angegeben haben, dass sie ihre Visa für Russland von Auslandsvertretungen in ihren Heimatländern erhalten haben.

Russland vergebe die Papiere bereitwillig, um so gezielt Migranten anzulocken. Sie würden oftmals nach Moskau oder St. Petersburg fliegen, von wo sie dann weiter nach Belarus reisten und von dort oftmals weiter in die EU.

Die Bundespolizei bestätigte auf Anfrage, dass die Einreisen in die Russische Föderation überwiegend auf dem Luftweg erfolgten, die Weiterreise dann auf dem Landweg. Bei den festgestellten Dokumenten mit Belarus-Bezug handele es sich häufig um russische Kurzzeit-Visa wie sie etwa Touristen, Unternehmer oder Studenten erhalten.

Gefährdung von Menschenleben in Kauf genommen

Anders als noch vor einigen Jahren stammen die meisten Migranten, die derzeit über Russland und Belarus kommen, nicht aus dem Irak. Die Hauptherkunftsländer von Eingereisten mit Belarus-Bezug sind nach Angaben der Bundespolizei Syrien und Afghanistan. Der Recherche zufolge stammen viele Personen zudem aus Somalia, dem Jemen und aus Eritrea. 

Seitdem die Migration über Russland und Belarus erstmals 2021 hochschnellte, ist in den Ländern der Europäischen Union die Rede von Migration, die bewusst "als Waffe" genutzt werde. Was darunter zu verstehen ist, hatten zuvor bereits Experten der im Bundesinnenministerium angesiedelten AG Hybrid in einem vertraulichen Papier analysiert. 

Dem Bericht zufolge stellt Migration "an sich keine Bedrohung dar". Bestimmte Staaten missbrauchten das Thema aber "zu ihren eigenen politischen Zwecken - zum Beispiel um außenpolitische Ziele zu erreichen oder auch um die innenpolitische Stellung der Regierung zu festigen". Weiter heißt es: "Die Gefährdung von Menschenleben nehmen die staatlichen Akteure bewusst in Kauf." So sollten die Zielstaaten zu "grenzschützenden Maßnahmen gezwungen werden, wobei die bestehende Grenzinfrastruktur überlastet werden soll".

 

"Staatliche Schleusung"

Die Migration über Belarus war bereits im Jahr vor dem Start des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine gestartet, und zwar kurz nachdem die EU-Sanktionen gegen das Regime in Minsk verhängt hatte. Westliche Politiker und Behörden weisen seitdem immer wieder darauf hin, dass es sich bei dieser Migration via Russland nicht um direkte Folgen eines Krieges handele, sondern dass diese als staatliche Schleusung betrachtet werde.

Polen hatte 2021 als erstes Land in der Region die Zahl der Beamten an der Grenze zu Belarus massiv erhöht. Ein meterhoher Zaun und ein elektronisches Überwachungssystem sollen dabei helfen, die Zahl der irregulären Grenzübertritte so gering wie möglich zu halten. Nach Polen und Litauen verstärkten im vergangenen Jahr auch Lettland und dann auch Finnland ihren Grenzschutz.

Wie das finnische Innenministerium auf Anfrage von WDR, NDR und Süddeutscher Zeitung erklärte, begann Russland im Herbst 2023 damit, Migranten ohne Schengen-Visum an die Grenze zu Finnland zu bringen. Bereits wenige Wochen nach einem Anstieg auf mehr als 500 Personen innerhalb einer Woche, schloss Finnland die Grenzübergänge. Finnland erklärte auf Anfrage, dass man damals die Information gehabt habe, dass sich mehrere Tausend Personen der Grenze genähert hätten. Offizielle russische Stellen hätten die Anreise von Migranten an die finnische Grenze geplant.

Gesamte EU-Außengrenze im Fokus

Das Thema "Migration als hybride Waffe" ist in den vergangenen Jahren bedeutender geworden. Auch in der vertraulichen Risikoanalyse der EU-Grenzschutzagentur Frontex für 2023/2024 heißt es, die "Wahrscheinlichkeit für das Ausnutzen von irregulärer Migration als ein Druckmittel" habe zugenommen. Auch Frontex legt dabei einen Fokus auf Russland: Der Kreml habe die Möglichkeit, Flugrouten zu beeinflussen, gleichzeitig könnten die offiziellen russischen Behörden auch Routen auf dem russischen Land organisieren.  

Tatsächlich sehen die Experten von Frontex gleich an mehreren Bereichen der EU-Außengrenze die Gefahr, dass Migranten dort als Druckmittel genutzt werden könnten: Es handelt sich den internen Aufzeichnungen zufolge dabei neben Russland und Belarus auch um Serbien, die Türkei, Libyen und Marokko. Anders als Russland haben diese Staaten Migration zwar auch immer wieder als Druckmittel genutzt, nicht aber als Werkzeug in einem hybriden Krieg.

Karte: Polen und Belarus

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 22. Mai 2024 um 15:59 Uhr.