Eine Kundin geht im Supermarkt an einem Kühlregal vorbei.

Nach dem Preisschock Unterm Strich mehr Geld als vor der Krise

Stand: 06.07.2024 08:17 Uhr

Fast alles ist im Alltag ist teurer geworden. Doch zugleich sind Nettolöhne und Renten gestiegen. Laut Institut der deutschen Wirtschaft ist bei den Realeinkommen das Vorkrisen-Niveau schon wieder erreicht.

Von Steffen Clement, hr

Rentnerin Christiane Gillert aus dem hessischen Echzell braucht keine offizielle Statistik, um den Preisanstieg für Lebensmittel auf Euro und Cent zu erfassen. Die ehemalige Steuerfachangestellte führt seit 1982 akribisch Haushaltsbuch. In mehr als 2.500 Einträgen erfasst sie jedes einzelne Produkt, das sie im Jahr kauft. "Enorm, wie sich das alles in den vergangenen Jahren verteuert hat", so Gillert. "Bei einzelnen Produkten ein Aufschlag von 100 Prozent!"

Alle Produkte in ihrem Einkaufskorb sind innerhalb von fünf Jahren teurer geworden - ob Butter (plus 29 Prozent), Brot (plus 68 Prozent), Orangensaft (plus 84 Prozent), Zucker (plus 99 Prozent) oder Salzbrezeln (plus 102 Prozent). Insgesamt kostet ihr Mustereinkauf statt 16,05 Euro inzwischen 24,57 Euro. Das ist gut die Hälfe mehr als 2019, bevor erst Corona mit all den Lieferproblemen und dann der russische Angriffskrieg mit all den Energieproblemen die Preise nach oben trieben.

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Forscher: "Enorme Leistung"

Insgesamt stiegen die Preise seit 2019, dem letzten "normalen" Jahr, um 20 Prozent; im selben Zeitraum stiegen die Nettolöhne um 24 Prozent. Das zeigen die Berechnungen des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) im Auftrag des ARD-Wirtschaftsmagazins Plusminus. Christoph Schröder forscht in Köln zu den Themen Preise und Löhne. "Ich finde es eine enorme Leistung, dass wir trotz beispielsweise der Umstellung der Energieversorgung schon auf dem Niveau vor der Krise sind und es sogar schon wieder übertreffen."

Wissenschaftler Schröder erfasst zugleich große Unterschiede, wie sich das Verhältnis zwischen Lohnsteigerungen einerseits und Preiserhöhungen für verschiedene Produkte und Dienstleistungen andererseits entwickelt hat. So müssen die Deutschen zum Beispiel 38 Prozent weniger Arbeitszeit investieren, um sich einen Fernseher leisten zu können, aber 65 Prozent mehr für Zucker und etwa gleich viel für den Friseurbesuch.

Gemische Bilanz der Gewerkschaften

Bei Elektro-Produkten steige die Kaufkraft dank des technischen Fortschritts. "Dagegen kann ein Friseur nicht schneller die Haare schneiden als bisher, so dass wir dafür etwa so viel Arbeitszeit wie 2019 aufwenden müssen." Die Aussichten für die Beschäftigten sind seiner Meinung positiv, wenn auf der einen Seite die Inflationsrate sinke und zugleich der Lohn weiter steige. 

Genau hier sieht Christiane Benner die Aufgabe der Gewerkschaften. Die Vorsitzende der IG Metall zieht eine gemischte Inflationsbilanz. Corona und Krieg habe zweifellos "etwas mit den Menschen gemacht", so Benner. "Aber wir haben auf der finanziellen Seite mit einer verantwortungsvollen Tarifpolitik das Gröbste aufgefangen."

"Mehr Geld" wichtiger als "kürzere Arbeitszeit"

Eine zusätzliche Hilfe sei dabei die Inflationsausgleichsprämie von 3.000 Euro gewesen - steuer- und abgabenfrei. Jetzt sei es aber an der Zeit, die Kaufkraft der Beschäftigten weiter zu erhöhen, um das Vorkrisenniveau weiter zu übertreffen. So fordert die IG-Metall sieben Prozent mehr in der Tarifrunde, die im September beginnt. "Eine Forderung mit Augenmaß", meint die Gewerkschaftschefin. Die Befragung von mehr als 300.000 Mitgliedern habe ergeben, dass "mehr Geld" im Mittelpunkt stehe und nicht wie in früheren Jahren auch Themen wie beispielsweise eine kürzere Arbeitszeit.

Für Rentnerinnen und Rentner fällt die Inflationsbilanz etwas anders aus. Christiane Gillert arbeitet zwar noch tageweise an ihrem alten Arbeitsplatz im Steuerbüro, doch entscheidend für ihr Einkommen ist die Rente. Sie zieht ihre ganz persönliche Inflationsbilanz: "Wenn ich meine Ausgaben und Einnahmen von 2019 mit jetzt vergleiche, dann haben die Rentensteigerungen den Preisanstieg abgefangen", so Gillert. Unterm Strich sei damit ihr Lebensstandard etwa wie vor Ausbrauch der Dauerkrise. Der Blick in die Statistik bestätigt ihren Eindruck: Die Renten sind im Vergleich zu 2019 um 19 Prozent gestiegen, die Preise mit 20 Prozent kaum mehr.

Das Schlimmste überstanden?

Der Blick auf die nächsten Monate ist sogar noch positiver. Denn zum 1. Juli gab es eine Rentenerhöhung von 4,57 Prozent. Das ist deutlich mehr als die fürs laufende und kommende Jahr erwartete Inflationsrate, die sich nach Expertenschätzungen eher bei zwei Prozent als bei drei Prozent einpendeln dürfte. "Das Schlimmste haben wir hinter uns", ist IW-Experte Schröder überzeugt. Wenn die Kaufkraft so wie erwartet weiter zunimmt, dann können sich die Menschen in Deutschland mehr als vor der Krise leisten.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtet das ARD-Wirtschaftsmagazin Plusminus am 3. Juli um 21.45 Uhr im Ersten.