Lage in Haiti "Die Bandengewalt ist Symptom, nicht Ursache"
Keine Regierung, Bandengewalt: Haiti droht im Chaos unterzugehen. Anvisiert wird nun eine schnelle Lösung von außen. Ein Weg, der sich schon so oft als der falsche erwiesen hat, gibt Katja Maurer von medico international zu bedenken.
tagesschau24: Haiti scheint im Chaos zu versinken, so der Eindruck von außen. Wie ist denn die Situation derzeit im Land?
Katja Maurer: Ja, es ist so, in Haiti ist wirklich das völlige Chaos ausgebrochen. Das Land ist kollabiert. Das Problem besteht allerdings darin, dass wir uns sehr stark fokussieren auf die Gangs und Banden. Die sind aber die Symptomträger der Probleme und nicht die Ursache für die aktuelle Situation.
Die Ursache liegt vielmehr darin, dass Haiti weder ökonomisch noch demokratisch ein Staat ist, der funktioniert. Hinzu kommt noch, dass dieser Staat im Wesentlichen von außen regiert wird.
Katja Maurer ist Journalistin und leitete viele Jahre die Öffentlichkeitsarbeit der Hilfs- und Menschenrechtsorganisation medico international. Seit 2010 publiziert sie regelmäßig zu Haiti. Zuletzt das gemeinsam mit Andrea Pollmeier 2020 erschienene Buch "Haitianische Renaissance. Der lange Weg zur postkolonialen Befreiung".
"Das wesentliche Problem": Einmischung
tagesschau24: Haitis Premierminister Ariel Henry ist vor wenigen Tagen zurückgetreten. Er war ein von außen installierter Politiker und nicht ein vom Volk gewählter Vertreter. Inwiefern hat das zur aktuellen Lage möglicherweise beigetragen?
Maurer: Haiti wird eigentlich seit 2004 durch UN-Militärmissionen, durch die USA oder durch die internationale Gemeinschaft regiert. Es wurde also von außen bestimmt, wer dort Präsident wurde.
Das ist das wesentliche Problem. Auch jetzt haben wir die Bilder von der karibischen Staatengemeinschaft Caricom gesehen. Mit am Tisch saßen auch der US-Außenminister Antony Blinken, Vertreter Frankreichs oder Kanadas.
All die bestimmen nun wieder, was in Haiti passiert. Und sie schreiben auch vor, wie die haitianische Politik reagieren soll. Das ist ein grundsätzlicher Fehler.
"Erneut auf militärische Lösung setzen"
tagesschau24: Die Anrainerstaaten und die USA als regionale Großmacht verhandeln ja derzeit über neue Lösungen für Haiti. Es sollen nun Wahlen vorbereitet werden. Was würde das denn tatsächlich bringen?
Maurer: Es bringt nichts, wenn wir jetzt glauben, wir könnten mit einer militärischen Lösung agieren. Im Rahmen einer geplanten multinationalen Sicherheitsmission soll nun eine kenianische Polizeimission nach Haiti kommen.
Erneut wird man also eher auf eine militärische Lösung setzen. Und: Schnell in Aussicht gestellte Wahlen - das heißt auch, dass eine geringe Wahlbeteiligung zu erwarten ist, einfach weil wenig Glaubwürdigkeit da ist beziehungsweise aufgebaut werden kann.
Eigentlich müssten erstmal die demokratischen Institutionen wieder aufgebaut werden, die Justiz müsste funktionieren, Verbrechen von Korruption und auch Verbrechen der Gangs und Banden müssten vor Gericht landen. Kurz, die Herrschaft des Rechts müsste wiederhergestellt werden.
All das wären Voraussetzungen für wirklich demokratische Wahlen. Im Moment aber wird versucht, von außen eine schnelle Lösung zu erzwingen.
Wahl ohne Wahlbeteiligung
tagesschau24: Welchen Rückhalt hätte denn vielleicht dann eine gewählte Regierung in der Bevölkerung?
Maurer: Eine Regierung hätte nur dann einen Rückhalt, wenn sie nicht eine von außen installierte Regierung ist, die sogar formal noch durch eine Wahl legitimiert wird. Also nur dann, wenn sie wirklich durch eine hohe Wahlbeteiligung legitimiert ist.
Die letzten Regierungen haben eine Wahlbeteiligung von 25 Prozent und davon hat dann der Präsident 13 Prozent gehabt. Da konnte man nicht von Legitimation sprechen.
"Ein Übel mit dem anderen ersetzen"
tagesschau24: Es gibt Berichte, wonach sich auch die politische Elite in Haiti nur mit Gewalt von Banden bisher an der Macht halten konnte. Wer sind denn die Menschen, mit denen Haiti nun aus der Krise kommen könnte?
Maurer: Diese Menschen gibt es. Wir haben sowohl viele Schriftsteller oder Intellektuelle als auch eine rege Zivilgesellschaft in Haiti, die ums Überleben kämpft.
Wir haben eine haitianische Diaspora in den USA, die sich politisch zu Wort meldet und die nicht in die Bandenkriminalität verwickelt ist. Mit diesen Leuten müsste man zusammenarbeiten.
Zurzeit aber gibt es sozusagen das Ideal, dass alle Haitianer zusammenarbeiten sollte. Da will man ja den Teufel mit dem Beelzebub austreiben, also das eine mit dem anderen Übel ersetzen: Man kann ja nicht mit den Leuten, die von der Gewalt profitieren, zusammenarbeiten, um wiederum die Gangs zu bekämpfen. Das ist eine unauflösliche Paradoxie.
Das Gespräch führte Kirsten Gerhard für tagesschau24. Das Interview wurde für die schriftliche Fassung leicht angepasst.