Wahl in Armenien Ringen um Stabilität
Armenien ringt nach dem Krieg gegen Aserbaidschan um Stabilität. Premier Paschinjan ist angeschlagen. Nun hofft er bei einer Wahl auf ein neues Mandat. Doch der Wahlkampf entzweit das Land noch mehr.
Unermüdlich ist Nikol Paschinjan durch das Land gezogen. Täglich besuchte der amtierende Premierminister Armeniens Menschen in Dörfern und Städten. Für ihn steht bei der heutigen Parlamentswahl alles auf dem Spiel.
Aus dem Hoffnungsträger des friedlichen Machtwechsels von 2018 ist in den Augen vieler ein "Verräter" geworden: Vor sieben Monaten musste er ein von Russland vermitteltes Waffenstillstandsabkommen unterschreiben. Es war das Eingeständnis einer schweren Kriegsniederlage gegen den verfeindeten Nachbarn Aserbaidschan.
Aus Wut stürmten daraufhin Demonstranten Regierungsgebäude. Die Opposition sah ihre Stunde gekommen und versuchte über Wochen, die Menschen zu Protesten zu mobilisieren. Schließlich stimmte Paschinjan im März einer vorgezogenen Parlamentswahl zu.
Beschimpfungen und Rachedrohungen
Zu der Zeit standen die Chancen für eine Mehrheit seiner Partei "Bürgervertrag" trotz allem gut. Viele Menschen in den Regionen seien der Regierung dankbar für die Modernisierung von Straßen und Wasserversorgung sowie für die Vergabe von Kleinkrediten, erklärt der Sicherheitsexperte Richard Giragosian in Jerewan. Es gebe weiter Hoffnung, dass Paschinjan versprochene Reformen nach der Wahl umsetzen werde, sagt der Journalist Boris Navasardjan vom "Jerewaner Presseclub".
Jedoch erwies sich Paschinjan als schlechter Krisenmanager. Er vergebe Posten eher an loyale als an kompetente Personen, lautet ein Vorwurf. Auch trifft er Entscheidungen oft allein. Seinen Vorschlag zur Einbeziehung internationaler Beobachter in den neu aufgekommenen Grenzstreit mit Aserbaidschan präsentierte er ohne Absprache mit dem Außenministerium. In der Konsequenz trat dessen Führung zurück. Im Wahlkampf beschimpfte Paschinjan zudem politische Gegner und ihre Anhänger: Er drohte mit einem "Massaker" an den "trojanischen Pferden" seiner Gegner im Staatsapparat.
Sicherheit versus Demokratie?
Lösungen für die innenpolitische Krise, die Aufarbeitung des Krieges und Auswege aus der resultierenden massiven Unsicherheit spielen kaum eine Rolle im Wahlkampf. Die Debatten spitzten sich stattdessen zu einem Duell zwischen Paschinjan und Robert Kotscharjan zu. Der Ex-Präsident stammt aus der Konfliktregion Bergkarabach und kämpfte dort als General im Krieg zu Beginn der Neunzigerjahre.
Seine Präsidentschaft bis 2008 war geprägt von wirtschaftlichem Aufschwung einerseits, autoritärer Regierungsführung, Korruptions- und Fälschungsvorwürfen bei Wahlen andererseits. Ob er 2008 als noch amtierender Präsident Verantwortung für den Tod von zehn Menschen bei Protesten nach einer Präsidentschaftswahl trug, sollte vor Gericht geklärt werden. Nach mehreren Monaten im Gefängnis sprach ihn 2019 das Oberste Gericht frei. Viele fragen sich, ob Kotscharjan seinerseits bei einem Sieg die ihm gewogenen Gerichte gegen seine politischen Gegner einsetzen wird.
Kotscharjan argumentiert, Sicherheit sei wichtiger als Demokratie. Auf Revolutionen seien auch in der Ukraine und Georgien Kriegsniederlagen gefolgt. Er kündigte an, bei einem Wahlsieg verloren gegangene Gebiete in Bergkarabach zurückverhandeln zu wollen.
Als aussichtsloses Versprechen verdammte dies wiederum Levon Ter-Petrosian. Der 76-Jährige war der erste Präsident des unabhängigen Armeniens. Auch er stellt sich der Wahl. Zwar wird er für seine rationalen Kommentare gelobt. Doch werden ihm kaum Chancen eingeräumt - wie den meisten der 26 Parteien und Bündnisse.
Eine Trophäe Putins
Ein wichtiges Thema ist Russland als militärische Schutzmacht und so überbieten sich Politiker wie Kotscharjan darin, Russland noch mehr Einfluss geben zu wollen. Kotscharjan steht seit Jahren mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin in Kontakt.
Doch Fotos einer offiziellen Audienz gewährte Putin im April nur Paschinjan. Dieser steht zur Friedensvereinbarung mit Aserbaidschan, die Russland mit Truppen in Bergkarabach absichert. Auch sei Paschinjan für Putin eine Trophäe, sagt Experte Giragosian: Ein demokratisch gewählter Führer unter Kontrolle des Kreml - das könne Putin sonst nicht vorweisen.
Der Wahlausgang ist offen. Journalist Navasardjan hält alle Optionen für möglich: Eine ausreichende Mehrheit für eine Partei oder Bündnis zur alleinigen Regierungsbildung, die Notwendigkeit von Koalitionsverhandlungen oder im Falle deren Scheiterns eine zweite Runde der Parlamentswahl.
Schon jetzt sind für die Tage nach der Wahl Demonstrationen von Regierungspartei und Opposition angekündigt. Bei knappem Wahlausgang drohen hitzige Debatten über Wahlbetrug. Zwar berichteten NGOs in den vergangenen Tagen vermehrt über Versuche des Stimmenkaufs und der Wählerbeeinflussung. Navasardjan geht aber davon aus, dass sich die Wähler nicht mehr so leicht um ihre Stimme bringen lassen wie früher.