Streit über Justizumbau Israel ringt weiter um Kompromiss
Nach der Verabschiedung des ersten Teiles der Justizreform fürchten viele Israelis um die Demokratie und Sicherheit ihres Landes. Präsident Herzog rief zu neuen Verhandlungen auf. Das Oberste Gericht will sich erst im Herbst mit dem Gesetz befassen.
Im Streit um den Justizumbau in Israel wird das von dem Regierungsvorhaben selbst betroffene Oberste Gericht des Landes zunächst nicht eingreifen. Es werde sich erst im September nach der Sommerpause mit Petitionen gegen ein im Zuge der umstrittenen Reform jüngst verabschiedetes Gesetz befassen, berichteten israelische Medien. Die Richter verzichteten demnach darauf, das Gesetz direkt per einstweiliger Verfügung einzufrieren.
Insgesamt wurden demnach bislang sieben Petitionen gegen das Gesetz eingereicht, unter anderem von der Anwaltskammer des Landes. Die Regierung hat bis zehn Tage vor der geplanten Anhörung Zeit, ihre Antwort auf die Petitionen einzureichen.
Kritiker sehen Demokratie in Gefahr
Am Mittwochmorgen war das am Montag verabschiedete Gesetz in Kraft getreten. Es ist Teil eines größeren Gesetzesvorhaben der rechtsreligiösen Regierung und sieht vor, dass Richter Entscheidungen der Regierung oder einzelner Minister nicht mehr als "unangemessen" einstufen können. Experten rechnen damit, dass so etwa die willkürliche Besetzung entscheidender Positionen gefördert wird. Dies betrifft auch Posten wie etwa der Generalstaatsanwältin oder des Polizeichefs.
Kritiker sehen die Gewaltenteilung und damit Israels Demokratie massiv in Gefahr. Zudem wurde angeprangert, dass der Gesetzgebungsprozess fehlerhaft gewesen sei. Die Regierung argumentiert hingegen, die Justiz mische sich zu sehr ein und bremse die Regierung aus. Ein weiteres Kernelement der umstrittenen Justizreform soll Medienberichten zufolge im Herbst auf die Agenda rücken.
Offen ist, wie das Oberste Gericht auf die Petitionen reagieren wird. Bisher wurde in Israel noch nie ein Grundgesetz aufgehoben, sondern lediglich reguläre Gesetze, die gegen das Grundgesetz verstoßen. Israel hat keine Verfassung und fußt stattdessen auf einer Sammlung von Grundgesetzen. Sollte sich das Gericht gegen das Gesetz der Regierung stellen, könnte dies zu einer Art Verfassungskrise führen.
Proteste gehen weiter
Der Streit über die Reform spaltet das Land, seit Monaten kommt es zu Massenprotesten. Auch am Mittwoch kam es landesweit wieder zu Demonstrationen. Die Protestbewegung kündigte an, "bis zum Ende" demonstrieren zu wollen. Für Samstag ist erneut eine große Kundgebung in Tel Aviv geplant. Auch in weiteren Teilen des Landes soll es Aktionen geben.
Laut einer Umfrage des Senders Channel 13 überlegt mehr als jeder vierte Bürger (28 Prozent), das Land zu verlassen. Mehr als die Hälfte (56 Prozent) befürchten demnach angesichts der sozialen und politischen Krise einen Bürgerkrieg. Generell stehen laut einer weiteren Umfrage des Senders Channel 12 nur 22 Prozent der Menschen hinter den Plänen der Regierung.
Ende der Woche beginnt die Sitzungspause, das Parlament kommt dann Mitte Oktober wieder zusammen. Ministerpräsident Benjamin Netanyahu kündigte an, auch in der Pause Gespräche mit der Opposition über einen Kompromiss führen zu wollen. Unklar ist, ob diese sich dazu bereit erklärt. Bisherige Gespräche blieben erfolglos.
Herzog will weiter für Kompromiss kämpfen
Israels Präsident Izchak Herzog, der die Verhandlungen vermittelte, zeigte sich angesichts des gescheiterten Kompromisses zwischen Regierung und Opposition "zutiefst enttäuscht". Er habe mit aller Kraft an einem Konsens gearbeitet, schrieb Herzog auf Facebook. "Ich bin auch verletzt und ich bin auch wütend." Er sei aber nicht bereit, die Hoffnung aufzugeben. Es dürfe keinen Bürgerkrieg geben.
Er bat Israels gewählte Vertreter und Offizielle sowie die gesamte Öffentlichkeit inständig um Gewaltverzicht. Die größte Verantwortung bei der Suche nach Lösungen liege bei der Führung. Er gehe davon aus, dass deren "beruhigenden Worten" bald Taten und ein verbindlicher Arbeitsplan folgen würden, sagte er.
Angesichts der zwei sich gegenüberstehenden Lager, des Gewaltpotenzials und der Polarisierungen sei die Herausforderung größer denn je. Gleichzeitig sei er "entschlossener denn je", sich für "Heilung und Wiedervereinigung der Menschen und den Schutz des Staates Israel und unserer Demokratie" einzusetzen. "Selbst wenn die geringste Chance besteht, werden mein Team und ich weiter daran arbeiten, Barrieren abzubauen und Brücken zu bauen."
Ankündigungen von mehr als Tausenden Reservisten der Armee, nicht mehr zum Dienst zu erscheinen, besorgten Herzog den Angaben nach. Der Präsident bat die Reservisten, immer wieder über jeden ihrer Schritte nachzudenken. Israel sei ihre Heimat und auch die ihrer Familien. Beobachter warnen schon länger, dass das Militär im Falle eines bewaffneten Konflikts nicht mehr ausreichend einsatzbereit wäre.
Kreditwürdigkeit herabgestuft
Die Verabschiedung des neuen Gesetzes wirkt sich bereits auf die israelische Wirtschaft aus: Die Ratingagentur Morgan Stanley stufte die Kreditwürdigkeit des Landes herab. Eine weitere Ratingagentur, Moody's, warnte vor negativen Folgen für Israels Wirtschaft angesichts der politischen und sozialen Spannungen. Auch die israelische Währung, der Schekel, verlor an Wert.
Netanyahu und Finanzminister Bezalel Smotrich versuchten zu beschwichtigen. In einer gemeinsamen Mitteilung schrieben sie: "Dies ist eine vorübergehende Reaktion; wenn sich der Staub lichtet, wird klar sein, dass die israelische Wirtschaft sehr stark ist." Große Wirtschaftsunternehmen hatten in den vergangenen Monaten mehrfach gewarnt, die Reform könne Investoren abschrecken und der Wirtschaft schaden. Unternehmen der Hightech-Branche kündigten an, Gelder abzuziehen.
Sorge in Berlin, Appell aus Brüssel
Die Bundesregierung reagierte mit Sorge auf die Entwicklungen. Regierungssprecher Steffen Hebestreit erklärte, Bundeskanzler Olaf Scholz sei mit Netanyahu und Herzog im Gespräch über die Lage. "Wir unterstützen die Bemühungen des israelischen Staatspräsidenten, einen Kompromiss zu finden, der von einer breiten Basis der Gesellschaft getragen wird." Dafür brauche es "Zeit und den Willen, Spaltungen zu überwinden und über Kompromisse zu sprechen".
Auch die EU rief die israelische Regierung dazu auf, nach einem Kompromiss zu suchen. "Die andauernden Debatten und Demonstrationen sind ein Zeichen dafür, dass ein erheblicher Teil der israelischen Bevölkerung besorgt über die Reformen ist", teilte eine Sprecherin des Auswärtigen Dienstes in Brüssel mit.
Die Sprecherin machte deutlich, dass sich die aktuellen Entwicklungen negativ auf die Zusammenarbeit zwischen der EU und Israel auswirken könnten. "Die Beziehungen zwischen der EU und Israel basieren auf gemeinsamen Werten, einschließlich der Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit (...)", erklärte sie. Es sei wichtig, dass die zentralen Werte erhalten blieben. Dazu gehöre auch die Unabhängigkeit der Justiz.