Armenien und Aserbaidschan Schwere Gefechte im Südkaukasus
Ein Jahr nach Kriegsende eskaliert die Lage an der Grenze zwischen Armenien und Aserbaidschan erneut. Die Regierung in Jerewan wirft dem Nachbarn einen Angriff auf armenisches Territorium vor und bittet Russland um Hilfe.
Trotz diplomatischer Bemühungen um eine Beilegung des Konfliktes zwischen Armenien und Aserbaidschan eskaliert die Lage im Südkaukasus erneut. Nachdem es bereits in den vergangenen Tagen zu militärischen Auseinandersetzungen kam, setzen beide Seiten nun wieder schwere Waffen ein.
Die Regierung in Jerewan wirft dem verfeindeten Nachbarn eine Offensive auf armenisches Territorium vor. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums wurden zwölf armenische Soldaten gefangengenommen. Lokale Medien zitierten Politiker, wonach 15 Soldaten getötet worden sein sollen. Die Streitkräfte hätten zwei Positionen verloren, hieß es in anderen Berichten.
Die Regierung in Baku warf ihrerseits Armenien vor, die Spannungen mit Provokationen zur Eskalation getrieben zu haben. Das Verteidigungsministerium kommentierte, unter den armenischen Soldaten herrsche Angst und Panik. Militärische Ausrüstung der Armenier sei zerstört worden. Der einsatztaktische Vorteil liege bei den aserbaidschanischen Streitkräften.
Waffenstillstand ohne Versöhnung
Nach Einschätzung von Beobachtern handelt es sich um die größte Eskalation seit dem Kriegsende vor einem Jahr. Damals eroberte Aserbaidschan umfangreiches Territorium zurück, das seit den 90er-Jahren Armenier kontrolliert hatten.
Nach 44 Tagen Krieg und weit mehr als 6000 Toten führte Russland am 9. November 2020 einen Waffenstillstand herbei und stationierte 2000 Soldaten im Konfliktgebiet Bergkarabach. Unter anderem wurde die Wiedereröffnung der Verkehrswege in der Region vereinbart. Mehrere Streitpunkte blieben jedoch ungeklärt. Zwar berieten Vertreter beider Seiten unter Vermittlung Russlands über die Umsetzung. Vor wenigen Tagen trafen sich die Außenminister beider Staaten in Paris. Doch kam es bereits in den vergangenen Monaten immer wieder zu militärischen Auseinandersetzungen.
Konfliktlösung per Gewalt?
Betroffen ist das eigentliche Konfliktgebiet Bergkarabach auf dem Territorium von Aserbaidschan. Dort leben unter dem Schutz russischer Truppen die nach dem Krieg verbliebenen Armenier. Hinzu kommt der Grenzverlauf zwischen Armenien und Aserbaidschan. Er ist in vielen Bereichen umstritten.
Ein weiterer Konflikt dreht sich um die aserbaidschanische Exklave Nachitschewan: Diese soll laut Waffenstillstandsvereinbarung mit dem Mutterland über einen Korridor auf armenischem Territorium verbunden werden. Mangels Vertrauen kommen die Verhandlungen dazu nicht voran. Während Aserbaidschan drängt, herrscht in dem betroffenen Gebiet Armeniens große Angst.
In dieser Angst sehen sich die Armenier seit dem 12. Mai bestätigt. Seitdem wirft die Regierung in Jerewan den aserbaidschanischen Streitkräften Vorstöße auf armenisches Territorium vor. Befürchtet wird, dass Aserbaidschan den vereinbarten Korridor nun mit militärischer Gewalt schaffen könnte.
Ein Test für Russland?
Der Militärexperte Richard Giragosian in Jerewan geht nicht so weit. Er sieht in der aktuellen Eskalation einen Versuch Aserbaidschans, seine Position für die Verhandlungen um die Grenzverläufe zu verbessern und die russische Führung zu testen. Diese will ihre militärische Präsenz an der Grenze verstärken, um die Lage zu deeskalieren.
Allerdings ist Russland kein neutraler Vermittler. Es ist militärische Schutzmacht Armeniens, seit beide Seiten 1997 einen Vertrag über "Frieden, Kooperation und gegenseitige Unterstützung" unterschrieben haben. Außerdem ist Armenien Mitglied in der von Russland geführten "Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit" (OVKS), die eine Beistandsklausel ähnlich wie die NATO enthält.
Entsprechend bat die armenische Regierung Moskau um militärische Unterstützung. Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu äußerte die Bereitschaft, die Auseinandersetzungen zu stoppen. Offiziell noch unbestätigt sind Berichte, wonach die Soldaten auf der russischen Militärbasis in der armenischen Stadt Gjumri in Alarmbereitschaft versetzt wurden.
Die OVKS-Staaten sahen die Bedingungen für eine militärische Unterstützung Armeniens noch nicht gegeben. Die meisten von ihnen pflegen gute Beziehungen zu Aserbaidschan.
In Brüssel rief EU-Ratspräsident Charles Michel beide Länder zu einer "vollständigen Feuerpause" auf. In einem Tweet schrieb er von einer "angespannten Lage in der Region" und von der Bereitschaft der EU zu vermitteln. Allerdings konnte die EU ebenso wie die USA in den vergangenen Monaten wenig im Südkaukasus ausrichten.